50 Jahre Flattach, das Dorf der Nächstenliebe

05.09.2017

Unwetter, Hagel, Überschwemmungen, Muren – Meldungen, die heute laufend durch die Nachrichten geistern. Diese gab es auch schon früher. Ein trauriges Beispiel dafür ist ein Murenabgang im Kärtner Mölltal. Was heute „Nachbar in Not“ ist, begann damals mit einer  Hilfsaktion der Tageszeitung „Kurier“, an dem die Glaser Wiens großen Anteil hatten. Elfriede Zahlner erinnert sich und blätterte in alten vergilbten Zeitungen, die Fritz Kalb, einer der jungen Helfer von damals, als Erinnerung aufbewahrte.

Im Wollinitzbach, an vielen Stellen klein genug zum darüber springen, wütete tagelang das Hochwasser. Am frühen Morgen des 17. August 1966 ertönte sirenenhaftes Geheul aus der Wollinitzschlucht. Fichten und Sträucher schienen plötzlich zu tanzen, abgehoben und geschoben von einer Mure, die heulend und knirschend aus dem Wollinitzbachgraben schoss. Mit den weiteren Schüben türmte sich die graue Schlammmasse immer höher. Nicht alle Bewohner konnten sich retten. Einige flüchteten in ein nahes Gasthaus und sahen wie in einem Film zu, wie ihre Häuser versanken. Kinder wurden verzweifelt gesucht, einige Menschen waren in den oberen Stockwerken eingeschlossen, andere durch Knochenbrüche schwer verletzt. Eine dreiköpfige 

Familie überlebte die Katastrophe nicht. Sechs Häuser wurden während einer Nacht völlig vom Erdboden verschluckt, die anderen schwerst beschädigt oder sind eingestürzt. Geologen schätzten, dass der Hauptschub der Erdexplosion eineinhalb Millionen Kubikmeter umfasste. 

Welle der Hilfsbereitschaft

Franz Traintinger war Redakteur der Tageszeitung „Kurier“. Ihm ließ das Leid der 24 obdachlosen Menschen keine Ruhe. Spontan startete er eine einzigartige Hilfsaktion „Die Kurier-Leser bauen ein Dorf“. Unfassbar, welches Organisationstalent er besaß. Er koodinierte den gesamten Bau von elf Häusern. Zwei der geschädigten Männer, Maurer von Beruf, teilte er zur Bauüberwachung ein. Am Wochenende reiste er nach Flattach und organisierte bis in die Nachtstunden. 

Schon am 1. Oktober 1966 erfolgte der Spatenstich durch den damaligen Chefredakteur Dr. Hugo Portisch. Eine Welle der Hilfsbereitschaft aus ganz Österreich folgte. Millionen Schillinge wurden gesammelt, Tonnen an Baumaterial herangeschafft, 4.000 Helfer dirigiert, Bundesheer-Konvois in Marsch gesetzt. Pfarrer Ludwig Bauer aus Neustadtl in Niederösterreich rief von der Kanzel zur Mithilfe auf und stand selbst an der Mischmaschine. Die Liste der Sachspender ist unendlich lang. An Wochenenden halfen hunderte Hände beim Wiederaufbau. 

Glaser packen an

Traintinger wandte sich auch an die Innungen um Mithilfe. Die Rohbauten sollten nun verglast werden. Das war kurz bevor Landesinnungsmeister Felix Sattler zum ersten Glaserstammtisch aufrief. Schon bei der ersten Zusammenkunft brachte er die Anfrage vor und 19 Kollegen erklärten sich spontan bereit, unentgeltlich zu arbeiten. Sofort reiste Felix Sattler nach Kärnten, um an den Holzfenstern Naturmaß zu nehmen. 700 Quadratmeter Glas spendeten die Brunner Glasfabrik und die Firma Eberspächer. Der Kitt kam von der Firma Fink und die Stiften von der Firma Maly. 

Am 21. April 1967 war es dann soweit mit dem Wochenendeinsatz. Ein Autobus, zur Verfügung gestellt vom Reisebüro Springer, brachte die bestens gelaunten Glasermeister mit einigen Soldaten nach Flattach. Im Flattacherhof trafen sie abends mitsieben Kärntner Kollegen zusammen, die sich dem Glasertrupp anschlossen. Es war kalt und es regnete in Strömen. Am nächsten Morgen war Flattach eine Schneelandschaft. Dem Wetter trotzend begann die Arbeit auf den Baustellen um sieben Uhr früh. Vor jedem Haus standen bereits die passenden Glaskisten. Die arbeitswütige Glasermannschaft wurde zur Sensation und in der Presse hochgelobt. Alle Häuser wurden in nur einem einzigen Tag verglast. Schon nach dem Mittagessen begann man mit dem Aufräumen und besprach nur mehr kleinere Nachzüglerarbeiten. Somit waren der Abend und der ganze nächste Tag frei, wo der Grundstein zu den Freundschaften rund um den neu gegründeten Wiener Glaserstammtisch gelegt wurde. Am 19. Mai 1967 gab es einen zweiten Arbeitseinsatz. Einige Fenster und Türen waren noch zu verglasen, die Profilitarbeiten fehlten noch und einige Badezimmer wurden mit Marmorglas ausgekleidet.

Feierliche Übergabe

Am 6. Juli 1967 fanden die feierliche Einweihung und die Übergabe der elf Häuser an die geschädigten Familien statt. Die Bauzeit betrug also nur unglaubliche neun Monate. Das Dorf war festlich geschmückt. Hohe Politprominenz hielt bewegende Festreden. Der Abschluss gab es ein Festessen im Flattacherhof. Die Glaser, die mit ihren Frauen eingeladen waren, beschlossen im Anschluss daran, im nahegelegenen Napplach einen Stammtisch abzuhalten. Das war die Geburtsstunde der Kitt-Brothers Gustl Zahlner und Ludwig Ortner, die dann über Jahrzehnte für Musik und gute Stimmung in der Glaserschaft sorgten.

Vor zehn Jahren führte der jährliche Stammtischausflug nach Flattach. Die letzten Zeitzeugen Gustav Zahlner, Manfred Zahlner, Helmut Mager und Fritz Kalb erzählten uns vor Ort von ihrer Arbeit. Die schmucken Häuser wurden mittlerweile modernisiert, Profilit war keines mehr zu finden.  Heute erinnern in Flattach ein riesiger Gedenkstein, die Adressen „Kurierdorf“, die „Kurierstraße“ und der „Traintingerweg“ an das damalige Unglück und den Wiederaufbau. In der Glaserzeitung vom Jahr 1967 schloss Paul Mager seinen Reisebericht mit den Worten: „Wir als Teilnehmer glauben, in Flattach ein gutes Werk getan zu haben, fühlen uns aber mit den vielen netten, vergnügten Stunden im Kameradenkreis reichlich belohnt.“

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Glas

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