Mindestanforderungen und die Unschärfe der Sprache

15.06.2020

Sprache ist nie völlig präzis, Auslegungsunterschiede sind daher leider kaum vermeidbar, ­können aber bei Ausschreibungen und Angeboten gravierende Folgen haben.   

Für eine Ausschreibung ist Sprache allerdings alternativlos. Unklarheiten können gravierende Folgen haben. Ein aktuelles Judikaturbeispiel zeigt dies anhand von Eignungsanforderungen einer Ausschreibung.

Der Ausschreibungsinhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber legte ein Eignungskriterium „Personalausstattung“ fest. Die Bieter hatten den „Nachweis des jährlichen Mittels der ­Mitarbeiter zum Stichtag 1. 1. in den letzten drei Jahren (bzw. für den seit Unternehmensgründung bestehenden Zeitraum bei Unternehmen, die jünger als drei Jahre sind) zu erbringen“. Weiters war festgelegt, „dass der Bieter den Nachweis über mindestens zehn Mitarbeiter im oben genannten Zeitraum erbringen muss“.

Im ersten Satz fällt ein Widerspruch auf: Ein „jährliches Mittel“ bedeutet die mittlere Beschäftigtenzahl über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Ein „Stichtag“ ist damit schwer in Einklang zu bringen, denn zu einem bestimmten Stichtag kann eigentlich kein mittlerer Wert festgestellt werden, sondern nur der Wert zu diesem Stichtag.

Im zweiten Satz bezieht sich der „oben genannte Zeitraum“ auf die „letzten drei Jahre“. „Mindestens 10 Mitarbeiter“ ist der jährliche Mittelwert, der im ersten Satz gemeint ist. Ob mit den „letzten drei ­Jahren“ im zweiten Satz die drei Jahre vor dem für die ­Eignung relevanten Ende der Angebotsfrist gemeint sind (das wäre vom 19. 7. 2016 bis zum 19. 7. 2019 gewesen) oder etwas anderes, ist nicht ganz ein­deutig.

Die Auslegung

Ein Bieter gab im Angebot an, dass er in den Kalender­jahren 2017 und 2018 sowie im Rumpfjahr 2019 (1. 1. bis 19. 7. 2019) jeweils mehr als zehn Mitarbeiter hatte. Der Auftraggeber sah in den Ankö-Unterlagen des Bieters, dass dieser im Jahr 2016 weniger als zehn Mitarbeiter hatte. In einer Aufklärung wies der Bieter darauf hin, dass er bei Durchrechnung aller drei Kalenderjahre 2016 bis 2018 im Mittel über zehn Mitarbeiter hatte (wenn er auch für 2016, getrennt betrachtet, tatsächlich darunter lag).

Beide Versuche des Bieters waren ungeeignet. Die ­Heranziehung eines Rumpfjahres ist nicht zulässig (ein kürzerer Zeitraum als „drei Jahre“ war nur für Unternehmen zulässig, die erst kürzer bestehen). Ebenso war die Durchrechnung über drei Jahre nicht ausschreibungskonform, weil ein „jährliches Mittel“ als Mindestanforderung festgelegt war.

Der Auftraggeber schied das Angebot aus. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG 18. 10. 2019, W273 2223161-2) entschied, dass das Ausscheiden zu Recht erfolgte, weil laut BVwG der „Stichtag 1. 1.“ nur so ausgelegt werden konnte, dass die letzten drei vollen Kalenderjahre zu betrachten gewesen wären. Da der Bieter im Jahr 2016 im Mittel unter zehn Mitarbeiter beschäftigte, hätte er demnach die Mindestanforderung nicht erfüllt. Ob der Bieter in den drei Jahren vom 19. 7. 2016 bis zum 19. 7. 2019 jährlich mehr oder weniger als zehn Mitarbeiter im Mittel beschäftigte, wurde vom BVwG nicht hinterfragt (dies war nach der Auslegung des BVwG irrelevant).

Der Praxistipp

Auslegungsschwierigkeiten bei Ausschreibungs­bestimmungen kommen regelmäßig vor. Wenn man sich als Bieter bloß eine eigene Meinung ­bildet, ­besteht das Risiko, dass der Auftraggeber und die Nachprüfungsbehörde zu einer anderen Meinung kommen.

Dieses Risiko ist insbesondere bei Eignungsanforderungen sehr hoch, denn diese legen ein binäres System fest: Wenn man eine Mindestanforderung nicht erfüllt, ist das Angebot zwingend auszuscheiden und wird nicht mehr in die qualitative Bewertung der Angebote nach den Zuschlagskriterien einbezogen. Daher ist insbesondere bei Unklarheiten zur Eignung davon abzuraten, „spekulative“ Annahmen zu treffen. Eine rasche Anfrage beim Auftraggeber, um hier bei der Angebotslegung möglichste Aus­legungssicherheit zu haben, empfiehlt sich.

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