Wallner zeigt den Weg
Glasbruch – nicht immer ist die Beurteilung einfach. Es gehört schon eine gewisse Erfahrung dazu, Glasbrüche und Glasschäden korrekt zu bewerten. Die Wallner’schen Linien beschreiben die Strukturen an Bruchflächen und helfen bei der Ursachenfindung.
Bei der Ermittlung von Glasbrüchen muss eine Vielzahl an Parametern beachtet und untersucht werden, um die Bruchursache feststellen zu können. Die wichtigsten dieser Parameter dabei sind folgende:
• Bruchausgang:
an der Oberfläche, an der Kante, im Material selbst, ist ein Bruchspiegel vorhanden/erkennbar
• Bruchverursachende Energie:
thermisch oder mechanisch verursacht
• Größe der bruchverursachende Energie: geringe, mittlere oder gar sehr große Energieeinwirkung
• Richtung des Bruchverlaufs: von wo kommt der Bruch, in welche Richtung ist er gelaufen
• Angriffsrichtung bei Stoß/Schuss: rechtwinkliges oder schräges Auftreffen in welchem Auftreffwinkel
• Ablauf der Rissaufspaltung: was ist der Primärbruch, welches sind Sekundärbrüche
• Spannung während des Bruchverlaufs: thermische und/oder mechanische Druck- oder Zugspannungen
• Bruchgeschwindigkeit: schnelles oder langsames Brechen des Glases
• Oberfläche mit Zug- und Druckbelastung: von welcher Seite erfolgte die Einwirkung von Druck- bzw. Zugspannung
• Produktionsbedingte Parameter:sind Restspannungen vorhanden, liegt eine thermische Vorspannung vor
• Bruchentstehung: bei Herstellung, Weiterverarbeitung, Veredelung, Transport, Verpackung, Handling, Einbau, Nutzerverhalten, Dimensionierung
• Vorschädigungen: liegen evtl. Vorschädigungen vor, wo und in welcher Art
Zur Feststellung von welcher Stelle der Bruch ausging, ist es in den meisten Fällen notwendig, die Bruchoberflächen zu untersuchen. Ein wichtiges Beurteilungskriterium, das einige dieser Fragen beantworten kann, ist das Vorhandensein von „Wallner’schen Linien” (engl. rib marks, Wallner lines). Diese sehr aussagefähigen Markierungen an der Bruchoberfläche von Glas werden nachfolgend detailliert beschrieben.
Warum „Wallner’sche Linien”?
Der Physiker Helmut Wallner (1910-1984), Dr. phil. der Physik und Absolvent der Lehramtsprüfung für höhere Schulen in Mathematik und Physik, beschrieb bereits 1939 in der Zeitschrift für Physik diese „Linienstrukturen an Bruchflächen”. Während seiner Arbeiten am Institut für Theoretische Physik der Martin-Luther-Universität in Halle bei Professor Adolf Smekal beschäftigte sich Helmut Wallner mit Bruchversuchen an Rundstäben aus Glas. Bereits wenige Wochen nach seinem Arbeitsbeginn machte der in Veitsch in der Steiermark geborene Wallner schon 1938 eine bedeutende Entdeckung. Er erkannte, dass sich an den Bruchoberflächen markante Linien bilden. Für diese hat Helmut Wallner selbst folgende Deutung gegeben: „Wenn ein in Glas laufender Bruch auf eine Fehlstelle, z. B. einen Kratzer auf der Oberfläche der Probe trifft, löst dies eine mechanische Welle aus. In demjenigen Punkt, in dem sich die Welle und die sich weiter ausbreitende Rissfront kreuzen, wird die Richtung der Rissausbreitung kurzzeitig geändert. Diese Richtungsänderung macht sich als geringe Erhebung der Bruchfläche bemerkbar.” Die Verbindungslinie dieser Kreuzungsprunkte ist die heute so bezeichnete „Wallner-Linie”. Helmut Wallners Entdeckung war folgenreich, da sie zum einen die Richtung des Bruchverlaufs zeigt, zum anderen die Möglichkeit bietet, durch Vermessung der Linien die Bruchgeschwindigkeit zu errechnen. Leider war dies seine einzige Arbeit im
Bereich des Glases
Wallner schied allerdings bereits 1939 aus dem Institut aus und arbeitete dann beim Reichswetterdienst in München. Nachdem Helmut Wallner nach Kriegsende 1946 aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen wurde, nahm er eine Stelle als Studienrat am Gymnasium in Leoben in der Steiermark an, an dem er Mathematik, Physik und Darstellende Geometrie unterrichtete. Ab dem Sommersemester 1973 war er auch Lehrbeauftragter an der Montanistischen Hochschule Leoben. Nach dem Sommersemester 1975 trat Wallner in den Ruhestand und verstarb am 6. März 1984. Er wurde in Trofaiach bei Leoben begraben.
Markante Linien
Was sind nun diese Linienstrukturen an Bruchflächen und welche Aussage kann man mit ihnen beim Auftreten an Flachglas tätigen? Einfach erklärt zeigen diese „Wallner’schen Linien” die Bruchrichtung, die Bruchgeschwindigkeit und die Druck- und Zugseite bei spröden Materialien, insbesondere bei Kalk-Natronsilicatglas an.
Diverse Untersuchungen haben gezeigt, dass diese markanten Linien auf den Bruchoberflächen erst ab einer Bruchgeschwindigkeit von ca. 100 – 150 m/s erkennbar sind, bis zur maximalen Bruchgeschwindigkeit in Glas von ca. 1.540 m/s. Das heißt, dass bei schneller Bruchausbreitungsgeschwindigkeit auch entsprechend viel Energie benötigt wird, um den Bruch mit dieser doch sehr hohen Geschwindigkeit voranzutreiben. Bei langsamem Bruchwachstum von ca. 0,1 – 50 m/s sind keine „Wallner’schen Linien” erkennbar. Die genaue Errechnung der Bruchgeschwindigkeit anhand dieser Linien ist zwar möglich, jedoch extrem aufwändig und für die Praxis nicht geeignet, sondern – wenn überhaupt – nur unter Laborbedingungen anwendbar. Somit kann allerdings beim Vorhandensein dieser Linienstrukturen auf der Bruchoberfläche eine klare Aussage getroffen werden: Es bedarf einer relativ hohen Energie, um den Bruch auszulösen und mit einer Geschwindigkeit von über 100 m/s weiterlaufen zu lassen.
Anwendung in der Praxis
Wie kann man nun die Richtung des Bruchverlaufs feststellen? Auch dies ist mittels der genauen Betrachtung dieser Linien möglich, da ihre Krümmung immer in Richtung der Bruchausbreitung zeigt, unabhängig davon, ob die Zugspannung gleichmäßig über den Bruchquerschnitt verteilt ist oder nur einseitig angreift.
Als dritte Erkenntnis aus dem Vorhandensein der „Wallner’schen Linien” kann die Zugspannungsseite erkannt werden. Sowohl eine gleichmäßige Zugspannungsverteilung über den Probenquerschnitt wie auch eine einseitig einwirkende Zugspannung zeigen die Linien deutlich an. Bei gleichmäßig verteilter Zugspannung laufen die Linien von beiden Oberflächen im Bruchrichtung und wenden in Probenmitte zur Kante zurück. Eine einseitig einwirkende Zugspannung lässt die Linien von der Druckspannungsoberfläche erst parallel verlaufen und dann zur Zugspannungszone hin drehen. Auch damit ist eine eindeutige Festlegung möglich, welche Oberfläche bei Glasbruch unter Druckspannung und welche unter Zugspannung stand
Beispiel zerbrochene Flasche
Am Beispiel einer zerbrochenen Limonadenflasche (oder auch an anderen Hohlgläsern) und nicht nur an gebrochenem Flachglas kann man mit etwas Geduld sowohl diese „Wallner Linien” erkennen, wie auch die Richtung der Bruchausbreitung feststellen. Die Bruchstücke dieser zerborstenen Limonadenflasche wurden dazu einzeln betrachtet. Anhand dieser Linienstrukturen an den Bruchflächen wurde jede einzeln Scherbe an den Kanten mit der Bruchausbreitungsrichtung markiert (Pfeile), sofern diese auch erkennbar war.
Anschließend wurde die Flasche wieder zusammengesetzt. Jetzt kann man anhand der Markierungen sehr gut erkennen, wo der Bruch begann und wie er sich ausgebreitet hat. Durch den hohen Druck im Inneren der Flasche durch die Kohlensäure war entsprechend viel Energie vorhanden, um eine sehr schnelles Bruchwachstum von über 100 m/s zu erreichen und damit auch Wallner-Linien zu erzeugen. Dabei wird auch das typische Bruchbild einer Flasche mit Überdruck erkennbar.
Somit ist es auch ohne labormäßige Untersuchung möglich, an Glasbruchflächen die Bruchausbreitungsrichtung, die Zug- und Druckspannungsseite und gegebenenfalls auch die ungefähre Bruchgeschwindigkeit zu ermitteln – dank der bereits 1938 durch Helmut Wallner gemachten Untersuchungen und der daraus gezogenen grundlegenden Erkenntnisse.