Interview

Exikon: Hightech-Planung für Lowtech-Architektur

Bauphysik
03.12.2020

Goga Nawara und Bernhard Sommer im Gespräch.
Bernhard Sommer, Goga Nawara und Pax
Bernhard Sommer, Goga Nawara und Pax

Woher kommt der Name Exikon?
Goga Nawara (G.N.):
Aus der Abkürzung für experimentelle und integrative Konzepte. Der Name verweist auf unser Interesse am forschungsgeleiteten Entwerfen.

Ihr habt euch auf Energie-Design spezialisiert, dessen Kernthema es ist, die gebaute und natürliche Umwelt in die Entwicklung von Architektur aktiv einzubeziehen. Das betrifft den Entwurfsprozess, Bauweisen sowie Konstruktions- und Fabrikationsprinzipien. Als begehrte Partner von Architekten habt ihr eigentlich eine Domäne der Ingenieurkonsulenten für Bauphysik übernommen?
Bernhard Sommer (B.S.): Ich denke, dass man als Architekt mitunter viel mehr und früher Einfluss auf die Formfindung nehmen soll und früher als ein Ingenieurkonsulent Potenziale erkennen kann. Seit unserer ZT-Bürogründung 2006 widmen wir uns verstärkt bauphysikalischen Aufgaben und Fragen der Nachhaltigkeit. Das Interesse war aber schon vorher da. Nach dem Studium befassten wir uns mit parametrischem Entwerfen, das auf dem System beruht, dass alle Elemente einer Komposition durch Parameter festgelegt sind und aufeinander reagieren können. Der Zusammenhang zwischen Form und Energieeffizienz ist für uns essenziell ...
G.N.: und welche Entwurfsparameter Einfluss auf Form oder Tragstruktur haben. Auch der Faktor Zeit mit der Veränderung von Funktionen und Nutzungen der Volumina innerhalb eines Bauwerks.

Welche Bedeutung hat nun eure Spezialisierung auf Bauphysik?
B.S.: Nach der Ausbildung dachten wir, Gebäude wären in erster Linie neben dem gestalterischen Entwurf und Nutzungsparametern durch Statik, also Tragwerk und Schwerkraft, geformt. Diese Gedanken haben sich aber in den letzten 20 Jahren in Richtung Energie verschoben.
G.N.: Der Begriff Energie steht für uns auch für Ökologie und somit für nachhaltiges Bauen. Darin liegt gestalterisches Potenzial: Formen entstehen nicht willkürlich. Im ökologischen Design steckt viel mehr Gestaltungskraft als in der Statik. In den 2005er Jahren waren selbst so triviale Dinge, wie ein Gebäude zur Sonne hin auszurichten, noch Nischenthemen – im B.S.: Wesentlichen von Passivhausplanern thematisiert – der Diskurs wurde jenseits der Architektur geführt. Noch heute ist vielen nicht klar, dass eine Ostseite anders zu verschatten ist als eine Südseite.

Ihr arbeitet als Architekten mit und für andere Architekten. Ihr legt also keinen großen Wert auf eine eigene Handschrift?
G.N.:
Prinzipiell arbeiten wir als Team bei Wettbewerben am Entwurf mit, wenn wir von Kollegen eingeladen werden. Unsere Expertise ist es, entsprechend der Vorstellungen der Architekten, den Entwurfsprozess zu optimieren. Viele Büros wissen noch nicht, dass man Architekturkollegen als Konsulenten engagieren kann.
B.S.:Das geschieht entsprechend des Stils der Büros. Wir sehen uns die Wetterdaten, die Wind­rose oder Ausrichtung des Grundstücks an, untersuchen, welche Formen und in welche Richtungen Öffnungen optimal sind. Wir denken von Beginn an die Haustechnik mit, welche Ressourcen es vor Ort gibt. Braucht es eine Ansaugung der Luft, gibt es Grundwasser, ist Geothermie möglich oder eine Photovoltaikanlage. Wir befassen uns mit der zum Teil komplizierten Rechtslage zum Verkauf des Stroms oder ob es bei Schulkomplexen eine Person gibt, die auf Wartung und Pflege geschult ist.
G.N.: Wir versuchen, uns in die Gestaltungsprinzipien eines Büros hineinzudenken und sehen diese als erste Richtlinie an, Normen stehen für uns an zweiter Stelle und dienen dazu, unsere Überlegungen zu unterstützen.
B.S.: Für uns ist die rote Linie die Gestaltungsidee der Architekten. Die Materialwahl ist meist intrinsisch mit dem architektonischen Entwurf verbunden, da greift man nicht ein. Unsere eigenen Projekte prägt natürlich unsere eigene Handschrift. Als Fachplaner aber respektieren wir die Handschrift unseres Gegenübers. Unsere Rolle ist es, das Gebäude im Sinne der Nachhaltigkeit mitzuformen. Die Architektur erlaubt immer unendlich viele Lösungen und Optionen, da setzen wir mit unserer Expertise an. Wir interessieren uns für physikalische Berechnungen. Simulationen der Lösungen geben uns die Sicherheit, dass Maßnahmen funktionieren.
G.N.: Das mit der eigenen Handschrift ist so eine romantische Vorstellung, das längst nicht mehr der Realität entspricht. Architektur ist mittlerweile so komplex, dass große Büros in Teams arbeiten, wir sind Teil des Teams und arbeiten gemeinsam an einer Idee.
B.S.: Das Ziel ist Optimierung. Bei der Bundesschule BQ Aspern, für die wir 2019 zusammen mit dem Generalplanerteam von fasch&fuchs den Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit erhalten haben, bestand diese aus mehreren Punkten: Energieversorgung, Bauphysik, thermischer Optimierung der Gebäudehülle, Mitwirkung an der Haustechnik (Optimierung der Bauteilaktivierung) und einem ökologischen Material- und Materialverarbeitungskonzept. Wir verwenden mittlerweile sechs bis sieben Softwarepakete für physikalische Simulationen, Programme für Schall- und Nachhallzeiten, Raumakustik, thermisches Verhalten, Beleuchtung und Belichtung, Wärmebrücken sowie Simulationen der Luftbewegungen. Daraus ziehen wir Rückschlüsse, die der Nachhaltigkeit und Energie, aber auch anderen architektonischen Qualitäten, wie der Akustik, dienen. Die meisten Programme sind mittlerweile integriert in Grasshopper, einer grafischen Programmier-Plattform. Da­raus können wir die Ergebnisse in 3D- und BIM-Modelle zurückspielen.
G.N.: In Aspern war etwa die Kompaktheit sehr wichtig, dadurch waren die Räume sehr tief. Um Licht in die Tiefe zu bringen, Glaswände zu verteidigen, die oft gerne eingespart werden, setzen wir Simulationssoftware ein. In der großen Aula gab es Bedenken bezüglich Akustik und Hall, das haben wir genau studiert. Heute dient die Aula auch als Konzertsaal. Akustik ist neben Temperatur und Licht eines der wichtigsten und interessantesten Themen in der Architektur.

Welche Materialien sind im Sinne der Nachhaltigkeit zu verwenden?
G.N.:
Neben Nachhaltigkeit steht Gesundheit im Vordergrund. Bei zertifizierten Bauten sind nach Fertigstellung unterschiedliche Messungen vorgeschrieben, zu Luftdichtigkeit, Formaldehyd, Raumklima, ebenso wie Untersuchungen auf krebserregende Substanzen. Das war anstrengend, ich musste Produkte freigeben, zugehörige Angaben waren durch unterschiedliche Einheiten und Bezugsgrößen kompliziert umzurechnen. Firmen neigen dazu, Material zu verwenden, mit dem sie bereits gute Erfahrungen haben und stehen neuen Materialien ohne Lösungsmittel oft skeptisch gegenüber, zweifeln, ob diese im Sinne der Lebensdauer nachhaltig sind. Prinzipiell werden in Zukunft zertifizierte lösungsmittelfreie Produkte auf mineralischer Basis verwendet werden. In Österreich gibt es bereits darauf spezialisierte Firmen. Holz etwa ist dabei nicht eindeutig zuordenbar, Beton wird durch den Zement als kritisch gesehen, Ziegel durch die Energie für das Trocknen sowieso.
B.S.: Es steht kaum Holz zur Verfügung, das 20 Jahre natürlich getrocknet ist, meist ist es verleimt und wird über weite Strecken transportiert. Holz ist also nicht eindeutig nachhaltig und wird international auch unterschiedlich bewertet. In der Schweiz etwa wird Holz in puncto CO₂-Ausstoß viel schlechter eingestuft als in Österreich. Auch wird Holz meist mit Beton kombiniert. Dennoch: Wir lieben Holz, es ist ein wunderbares Material – aber vielleicht nicht nur wegen der Ökologie. Natürlich ist Lehm ein tolles Material. Doch es gibt Leistungsgrenzen. Die Frage der Materialien ist komplex.

Wie muss sich die Architektur angesichts des Klimawandels umstellen?
B.S.:
In der Stadtplanung gibt es viel zu tun. In Freiräumen muss wesentlich mehr getan werden, Bäume, Schatten, Begrünungen, Aufbrechen von Straßenbelägen, Gründächer. Andere Länder sind uns hier weit voraus. Wir haben heute aber sehr gute Diagnosewerkzeuge durch hohe Rechenkapazitäten und können dadurch gut einschätzen, wie sich ein Gebäude oder ein Stadtteil verhält. Und es steht zur Gestaltung eine große Produktfülle zur Verfügung. Wir können nachhaltig mit Glas, Folien oder Schäumen bauen, die Frage ist nur „wie“. Um die Klimaziele zu erreichen, gibt es viele Antworten. Wir sehen das Bauwerk als Teil der Umwelt, als Umformung. Beim Energiedesign ist uns wichtig, das Haus in jede Jahreszeit zu setzen, in Tag und Nacht, in verschiedene Nutzungsperioden, dann ist es stets ein sich veränderndes Haus, es wird optimiert. Das ist unsere Büroidee.

Welches Haus wird heutzutage bevorzugt?
B.S.
Die meisten wollen ein Lowtech-Haus und haben Angst vor Komplexität. Sie erwarten einfache Lösungen und Antworten. Was sie dann bekommen, ist meist schlechte Gestaltung und kein einfaches Haus. Häuser sollten aber userfreundlich sein. Man will ja auch kein Lowtech-Handy. Auch das Auto soll möglichst sicher sein. Menschen wollen geschützt sein. Jetzt geht es auch darum, die Umwelt zu schützen. Die Bauphysik Lowtech auszuführen, wäre natürlich möglich, mit kleinen Fenstern und natürlichen Lüftungskonzepten, die dann wahrscheinlich niemand einhält. Aber die Frage ist doch, wie gestalte ich die Umwelt des Menschen, in der er sich wohlfühlt und gewisse Dinge selbst beeinflussen kann.

Können wir von anderen Kulturen, von alten Systemen, etwa aus den Wüstenstädten des Iran, lernen?
B.S.:
Die zumeist auf dem Qanat-System im Iran basierenden Kühltechniken sind beeindruckend. Diese Systeme sind jedoch keineswegs Lowtech, sondern hochkomplex, also Hightech. Und sie funktionieren nur in einem ganz bestimmten Klima. Aber natürlich ist es immer gut anzusehen, was sich in bestimmten Regionen über die Jahrhunderte bewährt hat, dass es etwa beim Wohnbau in den Tropen keine Massivbauten gab. Vieles wurde vergessen, weil man Erdöl hatte. Bei den von uns geplanten und optimierten Gebäuden ist der größte Energiefaktor der nicht erneuerbaren Energie nicht das Heizen, sondern der Strom für das Licht. Klimagerechtes Bauen ist heutzutage durch Simulationsprogramme einfacher geworden.
G.N.:Hightech ist eine Frage der Definition. Was sich viele Menschen wünschen, ist Low-­Mainte­nance, was bei einem Gebäude ja auch sinnvoll ist. Bei der Planung sollten wir die neuesten Erkenntnisse und Technologien einsetzen. Also eine Hightech-Planung für Low-Maintenance-Gebäude.

Euer zweites Standbein und zweiter Tätigkeitsbereich ist jene der planenden Architekten.
G.N.:
Schon vor Gründung unseres Büros haben wir Konzepte für Umbauten, Adaptierungen, Verwertbarkeitskonzepte für Immobilienentwickler und Bauträger gemacht. Wir haben uns mit Umbauten, Machbarkeitsstudien, Baubarkeitsstudien auf Grundstücken und Kubaturstudien beschäftigt, um Kunden eine Entscheidungsgrundlage für ihre Investitionen zu geben.
B.S.: Wir befassen uns seit 20 Jahren mit der Bestandsstadt. Die Weiterentwicklung und Notwendigkeit einer Optimierung des Bestands wird für Büros und Fachplaner weiterhin Aufgabe sein, intensiviert durch die Einbrüche aufgrund von Corona.
G.N.: Zu unseren Aufgaben gehört auch die Umnutzung von Büroimmobilien. Bei zertifizierten Neubauten ist eine Grundflexibilität etwa bei der Tragestruktur bereits vorgeschrieben, sodass diese leicht nachrüstbar wäre. Neu schaffen muss man meist die Abstände der Ver- und Entsorgung von Sanitäreinrichtungen. Unser Prinzip bei der Planung von Neubauten ist immer eine Flexibilität der Grundrisse im Sinne der Nachhaltigkeit und Umrüstbarkeit. In unseren eigenen Projekten können wir jene Prinzipien einer integrativen Architektur am radikalsten vorantreiben.

Euer dritter Fokus liegt in der Forschung?
B.S.:
Im Moment arbeiten wir an einem vom FFG-geförderten Forschungsprojekt an der Universität für Angewandte Kunst Wien darüber, wie man Gründerzeithäuser klimafit und von Erdgas unabhängig machen kann. Dazu müsste man zuerst die Hülle thermisch sanieren, was wir aber – anhand  herkömmlicher Techniken – nicht wollen, da es den Charakter der Häuser und das Gesicht der Stadt zerstört. Wir wollen auch Kastenfenster erhalten, was schwierig ist, hier liegt unsere Hoffnung auf Vakuum-Isolierglas. Unser Ansatz ist es, wie durch subtraktive Maßnahmen – also durch Porosifizierung der Wände, von denen ja ein Drittel statisch redundant ist – diese Redundanzen für die thermische Sanierung genutzt werden könnten, ohne die Fassade zu zerstören. Wir entwickeln kostengünstige Verfahren mit solarbetriebenen autonomen Robotern, die sich durch die Gründerzeitbauten arbeiten und die thermische Qualität der Hüllen verbessern sollen. Mit allen Maßnahmen wird man dennoch keinen Neubaustandard erreichen.

Exikon Arc&Dev – Architecture, Research and Developement
... widmet sich seit seiner Gründung 2006 durch Goga S. Nawara und Bernard Sommer der Anwendung modernster Planungs- und Gebäudetechnologie mit dem Ziel frühzeitiger Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in den Entwurfsprozess. Spezialgebiet Energie Design: Energieeffizientes Entwerfen; bauphysikalische Gutachten, Berechnungen und Simulationen, Raumakustik; ökologische Bewertung und Zertifizierung; entwurfsgeleitete Forschung. 2019 wurde das Büro gemeinsam mit dem Generalplanerteam von Fasch und Fuchs mit dem Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet.

Arch. DI Bernhard Sommer gründete unter Leitung von Gastprofessor Brian Cody 2008 die Abteilung für Energie Design an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, wo er Forschung und Lehre leitet. Seit 2016 ist er Gastprofessor für Energieeffizientes Entwerfen an der ­Estonian Academy of Arts (EKA) in Tallinn. Er ist Vizepräsident der Kammer der ZiviltechnikerInnen für Wien, Niederösterreich und Burgenland sowie ehrenamtlicher Geschäftsführer der zt:akademie. Arch. DI Goga S. Nawara lehrt seit 2012 und forscht im Bereich integrativer Planungsmethoden am Institut für ­Interdisziplinäres Bauprozessmanagement der TU Wien. Seit 2016 unterrichtet sie Nachhaltiges Planen an der  FH Joanneum und am FH Campus Wien (Green Building). Sie ist Mitglied des Vorstandes der IG Architektur.

Mehr Informationen:
www.exikon.at

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