Lehmbau

Nachhaltigkeit mit vier Buchstaben

Nachhaltiges Bauen
09.08.2023

Lehm – alt, aber gut. Sogar sehr gut. Dass das nichts mit Nostalgie und elitärer Eitelkeit zu tun hat, sondern einen besonderen Mehrwert schaffen kann, hat Architektin Anna Heringer mit ihren Projekten in Bangladesch schon mehrfach bewiesen.
Architektur, die Gutes tut

Schon seit vielen Jahren engagiert sich die deutsche Architektin Anna Heringer für Projekte, die in vielerlei Hinsicht den Begriff der Nachhaltigkeit ernsthaft hinterfragen und sich dessen würdig erweisen. Schon seit 2005 setzt sie sich intensiv mit Lehm als ökonomisch-ökologisches Baumaterial auseinander. Dies hat für sie allerdings nicht etwa den typischen „Schlagzeilen-Charakter“, um auf sich aufmerksam zu machen, sondern es geht viel, viel tiefer. Als sie selbst mit ihren eigenen Händen mit Lehm auf Tuchfühlung gegangen ist und dabei dessen Konsistenz, Haptik, Geruch und Schönheit des Werkstoffs kennengelernt hat, gab es den Moment, an dem der Funke übersprang. Ab da fügte sich alles perfekt zusammen: die Leidenschaft für historische, überlieferte Bauweisen, guter Architektur und ein natürliches Material, das immer mehr zu einer guten Alternative wurde. Während sich Europa noch nicht so richtig durchringt, Lehm als grüne Alternative, die es überall vorrätig gibt, dort einzusetzen, wo es eben möglich ist, ist es an anderen Orten der Welt gängige Praxis, das umzusetzen, was bei uns ebenfalls einmal Tradition hatte. Lehm wurde gerne und sehr erfolgreich in Kombination mit Holz für Fachwerksbauten genutzt, was irgendwann wieder aus der Mode kam. Damit war man einer ökologischen Bauweise wahrscheinlich einmal schon viel näher, als man es heute ist. Lehm entsteht CO₂-frei, kann händisch oder maschinell verarbeitet werden und ist ein lokales Material, das nicht weit transportiert werden muss. Auch raumklimatisch ist Lehm das Material der Wahl: Er schafft gesunde und ausgeglichene Innenräume.

Das soziale Projekt Anandaloy integriert und bringt Menschen auf allen Ebenen zusammen.
Architektur, die Gutes tut: Das soziale Projekt Anandaloy integriert und bringt Menschen auf allen Ebenen zusammen.

Nehmen, was da ist
Für Anna Heringer steckt aber noch viel mehr dahinter, nämlich Architektur als Werkzeug zur Verbesserung des Lebens zu betrachten. Ihre Philosophie, in einem Gebäude viel mehr als nur ein Bauwerk zu sehen, sondern es als echten Katalysator für die lokale Entwicklung einer Region zu betrachten, zeigt sich bei der Planung von Anandaloy in Rudrapur, Bangladesch, einem Zentrum für Menschen mit Behinderungen sowie einem kleinen Atelier für die Herstellung fairer Textilien, genannt „Dipdii Textiles“. Anna Heringer hatte zuvor bereits fünf Projekte in Rudrapur, einschließlich der METI-Schule, umgesetzt und dabei viel Erfahrung gesammelt – ein stetiger Lernprozess, der sie in ihrem Denken und Arbeiten bereicherte und auch bestätigte. Anandaloy wurde aus lokalen Materialien wie Lehm und Bambus sowie mit viel händischer Arbeit konstruiert. Das Besondere gerade bei dem Projekt war es, dass statt einer deutschen diesmal eine einheimische Bauunternehmung eingesetzt wurde. Zudem beteiligte sich ein Team von Lehm- und Bambusarbeiter aus dem Dorf an der Realisierung des Projekts, darunter auch einige Menschen mit Behinderungen. Das gesamte Budget fließt damit an die ansässigen Bauern und Handwerker zurück und ermöglicht wieder mehr Kapazität und Ressourcen für die nächsten Projekte in der Region.

Anandaloy ­entstand aus lokalen Materialien, insbesondere Lehm, und wirkt dadurch nicht wie ein Fremdkörper.
Schönheit der ­Natur: Anandaloy ­entstand aus lokalen Materialien, insbesondere Lehm, und wirkt dadurch nicht wie ein Fremdkörper.

Kein richtig oder falsch
Das Anandaloy-Gebäude bricht in jeder Hinsicht mit Tabus: Es ordnet sich nicht unter, weder inhaltlich noch formal. Um das inhaltliche Konzept auch gestalterisch nach außen zu tragen, wurde als sichtbares Zeichen dieser Inklusion eine große Rampe errichtet, die sich in den ersten Stock hinaufwindet. Die mit der „Cob“ genannten Lehmtechnik errichteten Kurven sprechen Bände. Im Gegensatz zu den anderen Gebäuden in diesem Gebiet, die in einem rechteckigen Grundriss errichtet wurden, bricht das Anandaloy-Gebäude aus dieser Form aus. Es tanzt in Kurven, die Rampe windet sich spielerisch um seine innere Struktur. Diese architektonische Geste warf bei der Bevölkerung viele Fragen auf: Warum ist es wichtig, den Zugang für alle zu gewährleisten, egal ob gesund oder nicht? Die Zweifel und vielleicht auch Berührungsängste, die dieser neue Zugang aufwarf, wurden bald zerstreut. Weder das eine noch das andere hatte bei Anna Heringer eine Chance, was die Wahl des Baumaterials betraf. Sie entschied sich bewusst für Lehm und seine plastischen Fähigkeiten, um eine stärkere Identität zu schaffen, obwohl er oft als schlechtes und altmodisches Material angesehen wird. „Für uns spielt es keine Rolle, wie alt das Material ist. Es geht um unsere kreative Fähigkeit, es auf zeitgemäße Weise zu verwenden. Um die Schönheit und die Fähigkeiten von Lehm zu zeigen, muss man das Beste aus ihm herausholen und ihn nicht nur als billigere Version des Ziegels behandeln.“

Architektin Anna Heringer setzt sich intensiv mit Land und Leuten auseinander. Sie sind unverzichtbarer Teil ihrer Projekte.
Architektin Anna Heringer setzt sich intensiv mit Land und Leuten auseinander. Sie sind unverzichtbarer Teil ihrer Projekte.

Architektur für alle
Die Weitergabe von Wissen war ein zentrales Anliegen von Anna Heringer ebenso wie die Sichtbarmachung von Behinderungen, die in Bangladesch heute immer noch als Strafe oder als schlechtes Karma aus einem früheren Leben betrachtet werden. Die Einbindung von Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen, die in Ermangelung vorhandener Therapie- und Betreuungsplätzen auf sich allein gestellt wären, ist deshalb ein fundamentales Element des gesamten Projekts. Zum geplanten Therapiezentrum gesellte sich schließlich die Idee, ein Atelier für Schneiderinnen einzurichten, was ein weiteres Geschoß notwendig machte. Anna Heringer, die damit ein wirksames Mittel gegen die Stadt-Land-Wanderung und gleichzeitig für Frauen eine Möglichkeit, im eigenen Dorf einen Arbeitsplatz zu finden, geschaffen hat, betreut die neue Einrichtung persönlich mit: „Das Konzept war, den Menschen mit Behinderungen nicht nur eine therapeutische Behandlung zu ermöglichen, sondern ihnen auch die Möglichkeit zu geben, in diesem Gebäude zu lernen und zu arbeiten und sich in der Gemeinschaft zu engagieren. Jeder will gebraucht werden.“
Die Strategie all dieser Projekte von Anna Heringer – ganz gleich, ob im europäischen, asiatischen oder afrikanischen Kontext – ist die Kombination aus der Verwendung lokaler Materialien und lokaler Energiequellen einschließlich Handarbeit mit globalem Know-how. Dass es ihr der Lehm besonders angetan hat, liegt wohl auch daran, dass er das von Menschen Gemachte verkörpert und deshalb auch so einzigartig ist. Dieses soziale und nachhaltige Engagement wurde 2021 mit dem Philippe Rotthier European Prize for Architecture ausgezeichnet.

Laut Anna Heringer ist der grüne Beton längst entdeckt: Lehm gibt es immer und überall.
Laut Anna Heringer ist der grüne Beton längst entdeckt: Lehm gibt es immer und überall.
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