Musik unter der Wiese
Im Sommer ist das 1.500-Seelen-Dorf Ischgl eine einzige Baustelle. Die mehrstöckigen Bettenburgen werden saniert, vergrößert und dekoriert, die mehr als 10.000 Gästebetten für die nächste Wintersaison aufpoliert. Das Bergbauerndorf ist seit den Sechzigerjahren zu einer Event-Tourismusdestination mit dem größten Skigebiet der Alpen herangewachsen. Und es ist auf der Suche nach einem identitätsstiftenden Ort für die Dorfgemeinschaft, einem Gemeindekulturzentrum.

Der ansteigende Dorfanger hinter der Kirche, begrenzt von zwei Straßen und einem Trampelpfad, war der einzig leere Platz im Dorfzentrum, besiedelt nur von einer Garage und dem Musikpavillon. Diesen Platz hatte die Gemeinde ausgesucht, um ihrem sehr aktiven dörflichen Vereinsleben ein Zentrum zu geben und gleichzeitig dem alten, denkmalgeschützten Widum eine neue Nutzung. Nun sind Dorfzentren derzeit en vogue und werden vom Land finanziell großzügig unterstützt. Viele Bürgermeister erhoffen sich davon Aufwind für die Dorfgemeinschaft und für die eigene politische Karriere. Ausgangspunkt ist überall ein zumeist geladener Architektenwettbewerb, denn sonst gibt’s keinen Zuschuss vom Land. In Ischgl gab es zuvor schon zwei Bebauungsversuche, die wegen Widerständen in der Gemeinde nicht umgesetzt worden waren.
Eine Schachtel im Hang
Bei dem 2011 abgehaltenen Architektenwettbewerb, zu dem dreizehn Bewerber mit Erfahrung beim Bau von Ortszentren geladen waren, gewannen parc.architekten (Michael Fuchs und Barbara Poberschnigg) einstimmig den ersten Preis. Die Entwurfsidee war bestechend einfach: eine Schachtel in den Hang geschoben, und den Eingang als Platz gestaltet. Der Jury gefiel, dass die Volumina der Bauteile so angelegt waren, dass „die wesentlichen Elemente der Anlage mit minimalen Eingriffen in der dritten Dimension wirken“. Trockener Kommentar des Bürgermeisters zu Baubeginn: „Es muss genauso aussehen wie auf dem Plan, das heißt also, möglichst alles muss unter die Erde.“
Gebraucht wird ein Vereinsheim für die zirka 30 aktiven Vereine im Dorf und insbesondere für die 120 Mitglieder umfassende Musikkapelle, die sich als größte Tirols bezeichnet. Sie und der Kirchenchor wünschen sich Proberäume, auch die Bibliothek, das Gemeindearchiv und die Musikschule mussten untergebracht werden.
Dazu haben die Architekten den Hang bis zu acht Meter tief abgegraben und einen fast 2.000 Quadratmeter großen L-förmigen Betonbauteil hineingeschoben, überdacht von einem freitragenden Faltwerk aus Beton, dass auf zwei Stützen ruht. Dieses Dach ist aus bis zu sechs übereinandergelegten Matten geformt, dazwischen gerüttelter Sichtbeton. Die benötigten 20 Tonnen Stahl brachten 36 Lastkraftwagen innerhalb eines Tages ins Tal. Durch die Begrünung wird im nächsten Jahr eine schräge Wiese entstehen, aus der nur eine über Eck gestellte Fensterfront zur Belichtung des Innenraumes und der 15 Meter hohe Technikturm des Lifts mit einer verspiegelten Glasfläche herausragen werden. Dieses „Auge“ reflektiert die Kirche und die umgebende Bergwelt. Der Lift verbindet den Neubau mit dem unterirdischen Fußgängertunnel in sieben Meter Tiefe, der nicht nur das Gelände durchquert, sondern das ganze Dorf erschließt.
Unter der Wiese
Die Glasfront des Haupteingangs öffnet sich nach Süden zur Kirche und formt den einzigen ebenen Platz im Dorf. Auf der Ostseite läuft die Dachlandschaft in eine breite Treppe aus, deren Stufen als Sitze ausgebildet sind. Am Rand schützt ein Geländer die Besucher vor dem Absturz. Auf der Westseite wird der Platz vom Probenraum der Musikkapelle mit einer schrägen Sichtbetonwand begrenzt. Der Gebäudeteil stoppt den stetigen Westwind, der die Musikanten beim Spiel stört. Im lichten Eingangsbereich sollte eigentlich ein Barbetrieb Platz finden, doch bisher fand sich im ganzen Dorf kein Betreiber, jeder Musikant hat mit dem eigenen Hotelbetrieb genug zu tun.
„Aufreißen – einbauen – zuschütten“ hieß die Devise der Architekten, die im Dorf für gewisse Unruhe sorgte. Sie rekonstruierten den Anger, indem sie die Wiese über das Gebäude zogen und machten damit den alten Ort wieder spürbar. Der Musikproberaum überrascht mit seiner Wandvertäfelung. 500 dreieckige Eichenholzplatten – jede schräggestellt – filtern das Tageslicht. Sie alle wurden mittels Computer und Laser ausgemessen und – von der Wand abgerückt – fix montiert. Überall dominieren die zeitlosen Materialien Sichtbeton, Holz und Glas, wobei Stahl und Beton in Ischgl um 40 bis 50 Prozent teurer sind als 40 Kilometer talauswärts. Alle Kunstmaterialien sind schwarz, die Terrazzoböden aus dem Stein des Tales geschliffen, die Möblierung ist aus Weißtanne. So weit als möglich wurde auf lokale Traditionen zurückgegriffen.
Freigelegt und erhalten
Das alte Widum wird durch die in der Dachlandschaft vorgegebene Wegführung freigestellt; unterirdisch ist es mit dem neuen Bauteil verbunden. In dem denkmalgeschützten Objekt aus dem 18. Jahrhundert wurde alles erhalten, was die Geschichte des Hauses belegt. Zudem wurde bei der Renovierung im Erdgeschoß eine Stube mit blauen Barocktapeten freigelegt, die unter mehreren Übermalungen verborgen waren. Es sind die einzigen spätbarocken Tapeten Westösterreichs und damit eine denkmalpflegerische Sensation. Im Dachboden unter der alten Dachkonstruktion probt der Kirchenchor. Die Räume des Hauses werden unter den Vereinen aufgeteilt. Die Rückwand des alten Hauses bleibt original als Holzblockbau erhalten, dahinter sorgt ein neuer Lift für einen behindertengerechten Zugang. Er ist mit dunklen Zinkblechtafeln verkleidet, Metall-Glas-Passagen führen in jedes Stockwerk; eine Fluchttreppe ergänzt die Zugänglichkeit. Die Beheizung des gesamten Komplexes ist an die benachbarte Volksschule angeschlossen.
Im engen Zeitkorsett
Das Projekt sieht zwar einfach aus, war aber durchaus schwierig in der Umsetzung, behindert auch durch das enge Zeitkorsett. In Ischgl sind Baustellen nur zwischen 1. Mai und 30. November erlaubt, und die Gemeinde kontrolliert gnadenlos. Zu Saisonbeginn am 1. Dezember hat der Ort staubfrei und lärmfrei zu sein. Wer nicht fertig wird, muss die Baustelle über Winter einstellen. Die boomende Skisaison verlangt ihre Opfer.
Das Schlagwort bei der Abwicklung hieß „wahre Länge“. Da alle Wände schief sind und wegen der Zeitknappheit alle Firmen gleichzeitig auf der Baustelle arbeiteten, bereitete Architekt Thomas Feuerstein, Mitarbeiter im Büro von parc, alles in 3-D-Modellen auf und schickte die Screenshots auf die Baustelle. Jeder kam mit dem Bildschirm zur Montage vor Ort. Mit Renderings wurde permanent überprüft, ob noch alles seine Gültigkeit hat. Dabei wurden die digitalen Möglichkeiten bis auf das Äußerste ausgereizt, was von Baumeister, Bauschlosser, Tischler usw. höchste Präzision erforderte. Unter diesen Vorgaben hatten schon zuvor Fachleute eine Auswahl unter den Bewerbern getroffen.
Im Dorf war man zuerst erzürnt über die ungewöhnliche Baustelle, dann überrascht und jetzt schmähstad, weil alles unter der Erde verschwindet. Die einzige Frage lautet: Werdet ihr fertig bis zum 1. Dezember?
von Gretl Köfler