Digitalisieren oder sterben

Smart Glass
17.10.2017

 
Die rasant an Bedeutung gewinnende Digitalisierung und das „Internet of Things“ werden für viele Unternehmen des Fenster- und Fassadenbaus zum Prüfstein ihrer Zukunftsfähigkeit. Welche Umbruchsszenarien sich bereits heute abzeichnen, darüber tauschten sich die Experten beim diesjährigen europäischen Symposium „fenestra-vision: Smarte Fenster & Fassaden und Innovative Werkstoffe“ in Salzburg aus.  
Rund 110 Teilnehmer zählte das diesjährige hochkarätige Symposium „fenestra-vision“ in Salzburg. Auch die Glas-Redaktion war dabei.
Rund 110 Teilnehmer zählte das diesjährige hochkarätige Symposium „fenestra-vision“ in Salzburg. Auch die Glas-Redaktion war dabei.

Zum dritten Mal lud Swisspacer zu einem hochkarätig besetzten Symposium ein, das in diesem Jahr in Salzburg stattfand. Fenster- und Fassadenbauer, Systemhäuser, Planer sowie Experten aus der Wissenschaft diskutierten den sich abzeichnenden Wandel der Branche. Einig waren sich die Experten, dass an der Digitalisierung kein Weg vorbeiführt. „Digitize or die“ – Digitalisieren oder Sterben: Mit diesem Vortragstitel brachte etwa Jochen Wilms, Gründer und General Manager von W Ventures die Entwicklung auf den Punkt. 

Smart Homes: Gefahren und Risiken

Keynote-Speaker Dr. Eckhard Keill, Vorstandsvorsitzender der Roto Frank AG, untersuchte in seinem Vortrag zunächst, welche Substanz sich hinter dem aktuellen Trend des Smart Homes verbirgt. Dabei ging es ihm in erster Linie darum, Hindernisse und Gefahren aufzuzeigen. Einer aktuellen Studie (Gartner) zufolge steht der Hype um das vernetzte Gebäude in der öffentlichen Wahrnehmung kurz vor dem Höhepunkt – doch der Markt sei erst in etwa fünf Jahren wirklich reif für die Neuerungen. „Smart werden die Häuser erst, wenn sie unser Alltagsverhalten erlernt haben“, ist er überzeugt. Auf dem Weg dahin gilt es wichtige Aspekte und Risiken im Blick zu behalten. „Was ist, wenn die smarten Versprechen nicht eingehalten werden?“ Stolpersteine sind etwa Smart Home-Lieferanten, die vom Markt wieder verschwinden, oder Apps, die einfach eingestellt werden.
Digitale Systeme, die bequem von unterwegs bedient werden können, müssen vor Hackern effizient geschützt werden können. Gerade der Aspekt der Sicherheit ist ein wichtiges Kaufargument für Smart Homes.Dennoch: „Wohnen mit Technik wird Standard“ ist Keill überzeugt. Grundvoraussetzung für tragfähige Geschäftsmodelle sind gewerkeübergreifende Kooperationen und Konzepte. „Sonst entstehen Welten, die nicht mehr miteinander kompatibel sind“. 

Ein ganz besonderer Stellenwert kommt der Qualifizierung der Beteiligten entlang der Wertschöpfungskette bis zum Monteur zu. Darin sind sich die Vortragenden des Symposiums einig: Es werden neue attraktive Berufsfelder entstehen, beispielsweise für Systemintegratoren.

Dokumentation des Lebenszyklus

Andreas Bittis, Produkt Manager bei Saint-Gobain Building Glass, entwarf in seinem Vortrag ein spannendes Szenario in Sachen intelligente Produkte und Prozesse. Im Mittelpunkt stehen nicht nur smarte Lösungen wie schaltbare Gläser, sondern in erster Linie die Kommunikation zwischen Bauteilen, Gewerken und Nutzern sowie der daraus resultierende Informationszuwachs. Der intelligente RFID-Chip ermöglicht beispielsweise die lückenlose Dokumentation von der Herstellung eines Fensters, über Nutzerverhalten, Wartungszyklen bis hin zur Entsorgung. Auf Basis dieser Informationen können neue Geschäftsmodelle entstehen, ist Bittis überzeugt.
Die Diskussionen des Symposiums zeigten, dass gerade in der Steuerung noch viel zu tun bleibt. „Wenn es 17 verschiedene Apps braucht, um ein einziges Fenster bedienen zu können, ist das eindeutig zu viel“, betont Keill. Bluetooth und Wlan werden sich als Übertragungsstandard durchsetzen, doch brauche es Klarheit darüber, wer die Oberaufsicht der Gebäudesteuerung übernimmt. „Alles muss in einem einzigen System integriert sein“.

Dringender Handlungsbedarf

„Die Fensterbranche wird die Stabilität der letzten Jahre nicht mehr lange genießen können“, warnt Jochen Wilms. Er führt den Teilnehmern drastisch vor Augen, wie schnell sich ein Markt drehen kann: innerhalb von fünf Jahren haben Google, Facebook, Microsoft & Co. Industrieschwergewichte wie Shell oder Texaco als wertvollste Unternehmen abgelöst. Ähnliches könne auch der Bauindustrie bevorstehen. „Das Internet of Things wird bald 10- bis 20-mal größer sein, als es jetzt schon ist. Und gehen Sie davon aus, dass die digitalen Unternehmen großes Interesse an der Bauindustrie haben – ganze Geschäftsbereiche können hier verschwinden“ ist Wilms überzeugt. Der Fenster- und Fassadenbranche komme eine besondere Verantwortung zu, denn sie steuere Gebäude über die Hülle. Er ermutigt die Branche dazu, eine „Star-Alliance“ der Bauindustrie zu bilden, um den anstehenden Umbrüchen adäquat begegnen zu können.

Nest-Manager Maarten Verhezen zeigt den Perspektivwechsel, den sein Unternehmen vollzogen hat: Das zur Google-Holding alphabet gehörende Unternehmen rückt die Nutzersicht in den Fokus seines Geschäftsmodells. Die Menschen sollen sich wohlfühlen – mit Hausautomationsprodukten, die einfach funktionieren und optisch attraktiv sind. Gut 1.000 Ingenieure arbeiten bei Nest an Smart Home-Lösungen. Dazu gehören alle Gewerke wie Energie, Online oder Handel. Sein Anspruch: „Nest will die Bauindustrie vernetzen“.

Einen großen Schritt in Richtung Digitalisierung hat Schüco bereits gemacht und Schüco Digital als eigenständigen, alle Aktivitäten bündelnden, Bereich aufgestellt. Prof. Winfrid Heusler, Senior Vice President Global Building Excellence bei Schüco betonte in seinem Vortrag, dass es die Kompetenzen der unterschiedlichen Gewerke braucht, um die interdisziplinären Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Die Verbindung der realen und der virtuellen Welt werde disruptive Auswirkungen auf die Bauindustrie haben. 

Digitaler Gebäudezwilling

Die Vorteile, die das Arbeiten mit einem digitalen Zwilling bietet, zeigte Prof. Dr.-Ing. Klaus Sedlbauer, Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik, IBP, auf. Der digitale Zwilling dient als Planungsgrundlage, um Aspekte der Nutzung zu simulieren, Gewerke und technische Lösungen im Zusammenspiel mit den Außenbedingungen aufeinander abzustimmen. 
Die Stärke der digitalen Planung zeigt sich auch im Building Information Modeling BIM. Lars Anders, Geschäftsführender Gesellschafter der Priedemann Fassadenberatung, sieht hier die Zukunft beim Planen und Bauen von Gebäuden, darauf müsse sich die Branche einstellen. „Die digitale Transformation ist eine Strategie und keine Technologie. Die Anschaffung von Software reicht nicht aus“ unterstrich er in seinem Vortrag. So seien etwa Fassaden nur dann innovativ, wenn sie zum ersten Mal in dieser Form gebaut werden. Als eindrucksvolles Beispiel präsentierte er das Priedemann Projekt RMK Headquarters, Yekaterinburg: vom 3D gedruckten Modell über das 3D CAD Engineering bis zum mehrachsgesteuertem Zuschneiden und Roboterschweißen war die gesamte Prozesskette durchgehend digital.

Neue Werkstoffe für intelligente Gebäudehüllen

Den Bogen zu den Werkstoffen schlug Prof. Dr.-Ing. Klaus Peter Sedlbauer. Gebäudehüllen der Zukunft steuern die Funktionen wie ein menschlicher Körper, es wird die Fassade sein, die das Gebäude beeinflusst. Dazu tragen auch intelligente Baustoffe bei, wie etwa textile Fassaden.

Die abschließende Expertenrunde, moderiert vom Institutsleiter des ift Rosenheim, Prof. Sieberath, diskutierte über mögliche Entwicklungen in Sachen PVC als Profilwerkstoff. Es herrschte Einigkeit darüber, dass dieser Werkstoff auch in den nächsten Jahrzehnten nicht durch neue Werkstoffe ersetzt werden wird. 

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