Vorvertragliche Warnpflicht bei Ausschreibungen
Entdeckt ein Bieter Mängel in der Ausschreibung, besteht eine Warnpflicht – und zwar bereits vor Vertragsabschluss.
Nach dem Bundesvergabegesetz 2018 ist ein Bieter verpflichtet, dem Auftraggeber umgehend mitzuteilen, wenn eine Berichtigung der Ausschreibung erforderlich wäre (§ 125 Abs 6 bzw. § 292 Abs 6 BVergG 2018). Gleiches ergibt sich für Baumeister aus der Verordnung über deren Standesregeln (§ 4 Z 4).
Ergänzend besteht eine Warnpflicht des Werkunternehmers gemäß § 1168a ABGB. Diese gilt grundsätzlich erst mit Vertragsabschluss. Eine aktuelle OGH-Entscheidung (19. 2. 2020, 7 Ob 191/19t) spricht nun aber ausdrücklich von einer „vorvertraglichen Verletzung der Warnpflicht“ gemäß § 1168a ABGB.
Die Frage, wie weit diese vorvertragliche Warnpflicht geht, ist wichtig, denn: Aus dem BVergG 2018 und der Verordnung über die Standesregeln für Baumeister ergibt sich nur eine Verpflichtung zur Warnung hinsichtlich Mängeln, die tatsächlich aufgefallen sind, aber keine Prüfpflicht der Unterlagen. Hinter § 1168a ABGB steht aber auch die Verpflichtung, die Unterlagen vorher auf auffällige Mängel zu prüfen.
Der Sachverhalt
In der OGH-Entscheidung ging es um eine Ausschreibung nach BVergG, in der die Verwendung von Material für eine Dammherstellung primär – aber nicht zwingend – durch Seitenentnahme aus einem benachbarten Grundstück vorgesehen war. Aus dem der Ausschreibung beigelegten geologischen Gutachten war weiters zu entnehmen, dass das Material erst nach entsprechenden Maßnahmen verwendbar sein könnte. Der Werkunternehmer klagte Mehrkosten für Maßnahmen ein, die aus seiner Sicht über jene im Gutachten beschriebenen Maßnahmen hinausgingen. Ins Angebot einkalkuliert hatte er offenbar nur die im Gutachten beschriebenen Maßnahmen.
Der OGH verwies die Rechtssache an das Erstgericht zur Entscheidung zurück, weil der Sachverhalt noch nicht ausreichend ermittelt wurde, hielt aber hinsichtlich des Zeitraums vor Angebotsabgabe Folgendes fest:
Wenn der Werkunternehmer aufgrund seiner Sachkunde eine über das Gutachten hinausgehende Untauglichkeit des Materials erkennen hätte müssen, trifft ihn „eine vorvertragliche Verletzung der Warnpflicht“, wenn er
- den Auftraggeber nicht vor Angebotslegung gewarnt hat
- und ein „um die notwendigen Mehrkosten geringer gehaltenes“ Angebot gelegt hat.
Möglichkeiten und Verpflichtungen eines Bieters
Die OGH-Entscheidung, wenn man sie ernst nimmt, ist schwer nachzuvollziehen, denn sie bedeutet Folgendes:
Ein Bieter, der (was üblicherweise Sinn der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ist) mit der Chance rechnet, ein erfolgreiches Angebot zu legen, und dem bei Prüfung der Ausschreibungsunterlagen Fehler auffallen, die zu Mehrkosten führen könnten, hätte folgende Möglichkeiten, um einer Haftung für Warnpflichtverletzung zu entgehen:
- Er weist den Auftraggeber vor Angebotslegung auf diesen Fehler und die Konsequenzen hin
- oder er kalkuliert in sein Angebot die Konsequenzen des Ausschreibungsfehlers ein.
Die erste Möglichkeit ist noch halbwegs verständlich, wenn auch in der Praxis schwierige Beweisprobleme auftreten.
Die zweite Alternative ist allerdings schwer nachvollziehbar. Zunächst müssen in Vergabeverfahren die Angebote vergleichbar sein, also alle Bieter die gleichen Leistungen anbieten. Wie das funktionieren soll, wenn jeder Bieter Mehrkosten von Fehlern einkalkuliert, die er in der Ausschreibung entdeckt hat, ist unklar. Außerdem darf ein Bieter keine Leistungen kalkulieren, die in der Ausschreibung nicht vorgesehen sind, weil das Angebot sonst als ausschreibungswidrig auszuscheiden ist. Und schließlich wäre die Nichtkalkulation der Konsequenzen von Ausschreibungsfehlern nur dann ein – laut OGH unzulässiger – Wettbewerbsvorteil, wenn andere Bieter das schon einkalkuliert haben, was aber für einen Bieter vor Angebotsabgabe (zumindest auf legalem Weg) unmöglich in Erfahrung zu bringen ist. In der Praxis ist daher davor zu warnen, es sollte eher die Warnung des Auftraggebers vor Angebotslegung erfolgen.