Round Table
Hat das Null-Grad-Dach Zukunft?
Es war ein neues Talk-Format, das das Team der Fachzeitschrift Dach Wand am 19. September 2024 in Zusammenarbeit mit dem Dachspezialisten Bauder ausprobierte: Hochkarätige Expert*innen und ein kleiner Kreis von Entscheidungsträgern aus der Dach- und Baubranche diskutieren offen über ein aktuelles Thema.
Die dramatischen Unwetter Mitte September gaben dem gewählten Thema "Null-Grad-Dach" Rückendeckung. Einmal mehr hatte sich gezeigt, dass die fortschreitende Bodenversiegelung und die vorhandene Infrastruktur den Extremwetterereignissen immer öfter nicht standhalten können. Umso wichtiger werden neue Retentionsflächen.
In zwei Gesprächsrunden wurde das Null-Grad-Dach im neuen Bauder Werk in Bruck a. d. Leitha (NÖ) von allen Seiten beleuchtet. Im ersten Round-Table-Talk sprach Birgit Tegtbauer mit Susanne Formanek (Grünstattgrau, IBO), Gundula Dyk (Grünstattgrau, Bauder), Wolfgang Hubner (Institut für Flachdachbau und Bauwerksabdichtung) und Jakob Peleska (Obenauf) über das Bauteil Null-Grad-Dach, dessen Nutzen und Risiken sowie die veränderten Klimabedürfnisse.
Birgit Tegtbauer: Welches Risiko geht man mit der Ausführung eines Null-Grad-Daches ein? Welche Maßnahmen gibt es, um Risiken zu minimieren?
Wolfgang Hubner: Vielfach entsteht beim Begriff des Null-Grad-Daches ein Bild im Kopf, wo wir ein überflutetes Flachdach sehen. In der Praxis sieht das jedoch anders aus. Denn Wasser kann sich, außer es befindet sich in einer dichten Wanne, nicht unbegrenzt aufstauen. In der Praxis finden wir bei unseren ÖNorm-Dächern zwei Prozent Mindestdachneigung. Aufgrund von Toleranzen, Ebenheit, Durchbiegung bleibt jedoch auch hier lokal Stauwasser mit zehn Millimeter stehen. Reduziert man das Gefälle auf ein Prozent Mindestneigung, bleibt aufgrund von Toleranzen, Ebenheit, Durchbiegung lokal Stauwasser von ca. 15 Millimeter stehen. Würden wir theoretisch null Grad Gefälle planen und ausführen, wird aufgrund von Toleranzen, Ebenheit und Durchbiegung flächig Stauwasser von null bis zehn Millimeter stehen bleiben, lokal mit Ebenheitstoleranzen ca. 20 Millimeter. Der tatsächliche Höhenunterschied betreffend das Stauwasser ist also sehr gering.
Natürlich benötigen Null-Grad-Dächer ausreichend Entwässerungsabläufe, vielleicht sogar den einen oder anderen zusätzlich, damit das lokal anstauende Niederschlagswasser im Falle des Falles relativ zügig abfließen kann. Zum Risiko ist noch anzumerken: Was nützt das Gefälle, wenn am Dach der Gully verstopft ist? Und das ist bei jedem zweiten Dach der Fall, wenn es nicht regelmäßig gewartet wird.
Birgit Tegtbauer: Wozu braucht es das Null-Grad-Gefälle? Was ist der Unterschied zu einem klassischen Gründach-Aufbau?
Gundula Dyk: Der größte Unterschied liegt in der sogenannten Drän- und Wasserspeicherebene unterhalb der Vegetationstragschicht. In allen österreichischen technischen Regelwerken und Normen sprechen wir bis dato immer nur davon, dass eine "einwandfreie Entwässerung der Dachflächen" hergestellt werden muss – also das Überschusswasser soll möglichst schnell zum nächstgelegenen Gully geführt werden. Wir wollen in der Stadt der Zukunft aber genau das Gegenteil – wir wollen möglichst viel Wasser am Dach zurückhalten, um Starkregenereignisse abzupuffern und die Verdunstungskühle der Pflanzen maximal auszunutzen. Um diesen Wasserspeicher einerseits maximal auszunutzen und andererseits auch rechnerisch zu bewerten, braucht es ein Null-Grad-Dachgefälle als Grundlage für den Retentionsraum. Statt des Dränelementes wird somit beim Retentionsgründach ein Hohlraumkörper eingebaut, der unterhalb der Vegetationstragschicht den Wasseranstau ermöglicht.
Birgit Tegtbauer: Wie ist der Stand der Begrünung in Österreich und in Wien? Wie groß ist das Potenzial der Bauwerksbegrünung, im Speziellen der Dachbegrünung? Und welche Bedeutung hat das Null-Grad-Dach dafür?
Susanne Formanek:In Österreich gibt es derzeit etwa 1,5 Millionen Quadratmeter neu begrünte Dachflächen pro Jahr, das ist ein Wachstum von rund 16 Prozent. Davon werden rund 1 Million Quadratmeter als Dachbegrünung neu installiert, wobei 84 Prozent dieser Flächen extensiv und 16 Prozent intensiv begrünt sind. In Wien sind derzeit etwa 1,8 Millionen Quadratmeter Dachflächen begrünt. Diese Zahl ergibt sich aus dem Gründachpotenzialkataster, das aufzeigt, dass eine große Anzahl von Dächern in der Stadt für eine Begrünung geeignet ist. Laut dem aktuellen Green Market Report umfassen diese Flächen sowohl flach geneigte Dächer bis fünf Grad, die sich sehr gut für intensive und extensive Begrünungen eignen, als auch leicht geneigte Dächer bis 20 Grad, die hauptsächlich für extensive Begrünungen geeignet sind. Das Potenzial für weitere Begrünungen ist erheblich, da theoretisch bis zu 1,2 Millionen Quadratmeter Dachflächen in Wien für eine Begrünung genutzt werden könnten. Das Null-Grad-Dach hat dafür eine sehr große Bedeutung, vor allem für das Wassermanagement, um Hochwasser wie sie in den letzten Wochen passiert sind, abzufedern.
Mit Retentionsgründächern schaffen wir es, die Regenmengen am Dach zwischenzuspeichern und dann kontrolliert – und rechnerisch nachweisbar! – mittels Drosselsystem abzugeben.
Birgit Tegtbauer: Was kann das sogenannte Retentionsgründach in Kombination mit einem Null-Grad-Gefälle leisten? Wozu dient es und wann kann/soll es eingesetzt werden?
Gundula Dyk: Es ist im Moment so, dass die Kanalsysteme vieler Städte und Gemeinden nicht mehr auf die aktuelle Verbauung ausgelegt sind – spricht zu viel Abwasser für zu wenig Kanalkapazität. Daher geben viele Bauvorschriften sogenannte "Einleitbeschränkungen" in den öffentlichen Kanal vor. Das sind Vorgaben wie maximale Einleitung in den Kanal von z. B. fünf Litern pro Sekunde, manchmal ist auch keine Einleitung möglich. Mit Retentionsgründächern schaffen wir es, die Regenmengen am Dach zwischenzuspeichern und dann kontrolliert – und rechnerisch nachweisbar! – mittels Drosselsystem abzugeben, entweder in den Kanal oder aber auch in Sickeranlagen. Ein weiterer Grund Retentionsgründächer zu forcieren, ist ein Maximum an Regenwasser in der Stadt zu behalten, um möglichst viel Verdunstung zu ermöglichen. Wir wissen alle, dass sich Städte im Sommer extrem aufheizen und wir die Verdunstungskühle einfach brauchen, um unseren Lebensraum zu erhalten.
Birgit Tegtbauer: Warum entscheidet sich ein(e) Architekt*in/Planer*in für ein Null-Grad-Dach? Wie "verkaufen" Sie dieses Dach abseits der Norm Ihren Auftraggeber*innen?
Jakob Peleska:Ich bin nicht sicher, ob ich in der Rolle des Planers derjenige sein möchte, der einen Auftraggeber zu einer Konstruktion außerhalb der Norm motiviert. Kommt ein Auftraggeber mit dem konkreten Wunsch oder ist diese Art der Konstruktion die einzige Möglichkeit, um z. B. dem Wasserhaushalt am Grundstück zu lösen, sehe ich das "Verkaufen" darin, hinreichend aufzuklären. Diese Konstruktion fordert gründlichste Planung, perfekte Ausführung und nicht zuletzt auch in der Nachbetreuung besondere Aufmerksamkeit. Die Mitarbeit des Auftraggebers ist bei Pflege Wartung und Monitoring mit Sicherheit mit mehr Aufmerksamkeit verbunden, als bei klassischen entwässernden Dächern. Wenn ein Auftraggeber hier klares Verständnis und sein Commitment zu einer Lösung außerhalb der Normen zeigt, sehe Ich die Möglichkeit, hier weiterzudenken. Nichts desto trotz ist es auch in diesem Fall nicht klar, ob man sich als Planer oder Ausführender über diese Lösung "drübertrauen" möchte. Hier fehlt vor allem im Hinblick auf Streitfälle der so wichtiger Rückhalt einer Norm wie der ÖNorm B 3691, welche momentan in keiner Weise geplante Unterschreitungen des Regelgefälles von Dachabdichtungen vorsieht. Das vorhandene Beiblatt von IFB und Günstattgrau stellt einen Schritt in die richtiger Richtung dar und ist gut, aber als rechtliche Sicherheit für viele Planer und Ausführende noch zu wenig.
Messungen zeigen, dass die Temperatur auf der Oberfläche von begrünten Dächern während der Mittagsstunden im Sommer im Durchschnitt um bis zu zehn Grad Celsius kühler ist als auf unbegrünten Dächern.
Birgit Tegtbauer: Welches Risiko geht man mit der Ausführung eines Null-Grad-Daches ein? Welche Maßnahmen gibt es, um Risiken zu minimieren?
Wolfgang Hubner: Vielfach entsteht beim Begriff des Null-Grad-Daches ein Bild im Kopf, wo wir ein überflutetes Flachdach sehen. In der Praxis sieht das jedoch anders aus. Denn Wasser kann sich, außer es befindet sich in einer dichten Wanne, nicht unbegrenzt aufstauen. In der Praxis finden wir bei unseren ÖNorm-Dächern zwei Prozent Mindestdachneigung. Aufgrund von Toleranzen, Ebenheit, Durchbiegung bleibt jedoch auch hier lokal Stauwasser mit zehn Millimetern stehen. Reduziert man das Gefälle auf ein Prozent Mindestneigung, bleibt aufgrund von Toleranzen, Ebenheit, Durchbiegung lokal Stauwasser von ca. 15 Millimetern stehen. Würden wir theoretisch null Grad Gefälle planen und ausführen, wird aufgrund von Toleranzen, Ebenheit und Durchbiegung flächig Stauwasser von null bis zehn Millimeter stehen bleiben, lokal mit Ebenheitstoleranzen ca. 20 Millimeter. Der tatsächliche Höhenunterschied betreffend das Stauwasser ist also sehr gering. Natürlich benötigen Null-Grad-Dächer ausreichend Entwässerungsabläufe, vielleicht sogar den einen oder anderen zusätzlich, damit das lokal anstauende Niederschlagswasser im Fall des Falles relativ zügig abfließen kann.
Zum Risiko ist noch anzumerken: Was nützt das Gefälle, wenn am Dach der Gully verstopft ist? Und das ist bei jedem zweiten Dach der Fall, wenn es nicht regelmäßig gewartet wird.
Birgit Tegtbauer: Wo beschaffen Sie sich Informationen zum Null-Grad-Dach, damit Sie als Planer das Risiko einschätzen und den Auftrag in kompetente Hände geben können?
Jakob Peleska: Mein erster Schritt sich hier Informationen zu beschaffen, ist immer ein Blick in die Normen, in diesem Fall die ÖNorm B 3691. Diese stellt sich zu dem Thema aber leider trockener als eine karge Wüste dar. Der nächste Schritt wäre eine Internetrecherche, welche nur bedingt hilfreich ist, da hier ein Potpourri an Erklärungen, Meinungen, Regelwerken oder vermeintlichen Regelwerken erscheint. Weiter geht es mit der konkreten Such bei den Verbänden. Hier sind wir in Österreich mit IFB und Grünstattgrau gut versorgt – und tatsächlich haben diese Beiden auch das "ÖNorm L 1131 Beiblatt – Retentionsdach mit Unterschreitung der Regeldachneigung" veröffentlicht, das einen guten Leitfaden zur Planung und Ausführung bieten kann. Auch bei den Materialherstellern findet man oft bereits durchdachte und geprüfte Lösungen und Ausführungsvorschläge sowie Beratung dazu. Zum Abschluss hat es sich für mich immer bewährt, bei für mich neuen Ausführungen das Gespräch mit einem Sachverständigen meines Vertrauens zu suchen.
Birgit Tegtbauer: Um einen Eindruck der Wirkung von Begrünungen zu bekommen: Welchen Einfluss haben Gründächer auf Klima und Temperatur?
Susanne Formanek: Ein begrüntes Dach kann die Umgebungstemperatur im Sommer signifikant kühlen. Messungen zeigen, dass die Temperatur auf der Oberfläche von begrünten Dächern während der Mittagsstunden im Sommer im Durchschnitt um bis zu zehn Grad Celsius kühler ist als auf unbegrünten Dächern. Die Kühlwirkung hängt stark von der Art der Begrünung ab: Intensive Dachbegrünungen mit dickerem Substrat und dichter Vegetation bieten eine höhere Verdunstungs- und Kühlleistung als extensive Begrünungen. Zusätzlich wird berichtet, dass ein begrüntes Dach nicht wärmer als 20 bis 25 Grad Celsius wird, während konventionelle Dächer sich auf über 90 Grad erhitzen können. Diese Kühlung trägt zur Verbesserung des Mikroklimas in urbanen Gebieten bei und hilft, die Auswirkungen von Hitzewellen zu mildern.
Birgit Tegtbauer: Wieviel CO2 können Gründächer speichern? Bietet das Null-Grad-Dach einen echten Vorteil für die Dachbegrünung?
Gundula Dyk: CO2 wird ja sowohl in der Blattmasse, als auch im Wurzelwerk und Boden gespeichert, das heißt, abhängig von den eingesetzten Begrünungsaufbauten wird mehr oder weniger CO2 aufgenommen. Bei geringeren Aufbauhöhen sind eher trockenresistente Pflanzen im Einsatz. In einer Forschungsarbeit von 2015 wurde untersucht, dass die C-Bindung extensiver Dachbegrünungen über einen Nutzungszeitraum von 50 Jahren bis 23 Kilogramm CO2 pro Quadratmeter beträgt. Bei intensiven Begrünungen ist dieser Wert deutlich höher und dem ebenerdigen Gelände annähernd gleichzusetzen. Bei üppigem Bewuchs (z. B. oftmals die Tiefgaragenbegrünungen) steht viel Pflanzenmasse zur CO2-Speicherung zur Verfügung. Hier macht es absolut Sinn, ein Retentionsgründach mit permanentem Wasserspeicher auszustatten. Die Pflanzen profitieren von dem großen Wasserreservoir und man kann sich gegebenenfalls sogar eine zusätzliche Bewässerung einsparen. Der größte Vorteil von Retentionsgründächern liegt somit beim Wasser – hier wird blaue und grüne Infrastruktur vereint: Wasser speichern, Abfluss reduzieren und verzögern sowie Verdunstung maximieren.
HINWEIS:
In Gesprächsrunde zwei ging es tiefer in die Materie. Birgit Tegtbauer befragte ihre Gesprächspartner Peter Amann (Sachverständiger, Grünstattgrau), Hans Hafellner (Bauphysiker), Johannes Koller (Monitoring Spezialist), Holger Krüger (Bauder Deutschland) und Gerhard Wögrath (Verarbeiter) zu Planung, Aufbau, Verarbeitung, Wartung und Monitoring von gefällelosen Dächern. Lesen Sie hier die Zusammenfassung des zweiten Experten-Talks.
Danke!
Herzlichen Dank an den Dachspezialisten Bauder, der uns für den Expert*innen Talk in sein modernes Produktionswerk nach Bruck a. d. Leitha eingeladen hat.
bauder.at