Kunst mit Hammer & Glas

Schlag der Befreiung

Glaskunst
28.08.2023

Kann das Zerschlagen von Glas, das in alle Richtungen zersplittert und zerbirst, Kunst sein? Ja, es kann. Wenn man es so macht wie Simon Berger.
Simon Berger beim Glas-brechen

Eins aus sechs: Die neue Spiegelserie zeigt ausdrucksstarke Frauen­porträts, die in der Zerbrechlichkeit ihre Stärke zeigen.
Eins aus sechs: Die neue Spiegelserie zeigt ausdrucksstarke Frauen­porträts, die in der Zerbrechlichkeit ihre Stärke zeigen.

Schon beim sechzigsten Salone del Mobile im Jahr 2022 wurde der Showroom des italienischen Möbelherstellers Gallotti & Radice in der Via Felice Cavalotti zum Ort der Faszination. Aus einem eher unbekümmerten Besuch eines über viele Jahre bekannt-vertrauten Unternehmens wurde ein Erlebnis, das so unerwartet schön wie nachhaltig bewegend war. Unter dem Titel „Unbreakable Identities“ verwandelte der Schweizer Künstler Simon Berger mit seinen Arbeiten – in Glas geschlagene weibliche Porträts – die Innenstadt-Location in einen geheimnisvollen Kunstraum. Dieses Jahr, 2023, legte Gallotti & Radice nach und lud Simon Berger erneut ein, eine Ausstellung unter dem Titel „Reflected Identities“ zu gestalten und darüber hinaus eine neue Produkt­serie zu launchen.

Hammerharte Emotionen

Doch was steckt dahinter? Und warum zerbrochenes Glas? Den Weg zum Material Glas fand Simon Berger bereits in seiner Tätigkeit als ausgebildeter Tischler, ein Werkstoff, der ihn immer schon faszinierte, da er in der Kunst seit vielen Jahrhunderten eingesetzt wurde und wohl auch, weil er ihn selbst oft in der Hand hatte. Aber eben nicht nur zwei-, sondern dreidimensional, meist in Verbindung mit Farbe. Der 1976 geborene Künstler mit Atelier in Niederönz wollte jedoch mit purem Glas arbeiten und sozusagen aus dem „Nichts“ etwas schaffen. Ebenso pur ist seine Methode: Mit einem klassischen Hammer, den er für sich adaptiert hat, geht er ans Werk und holt aus der Platte, die aus ganz gewöhnlichem Verbundsicherheitsglas ist, Erstaunliches hervor.

Simon Bergers Körpereinsatz

Mit voller Schlagkraft

Anstatt Glas mit aller Zartheit zu bearbeiten, setzt Simon Berger seine ganze Körperkraft ein. Was wie ein Gewaltakt anmutet, eine bewusste Zerstörung, die anfangs nur Fragen aufwirft, ist das vermeintliche Malträtieren der Glasplatte das Geheimnis seiner Kunst. Doch es ist kein wildes, unkontrolliertes Einschlagen, das Simon Berger gekonnt mit seinem Hammer ausführt. Wohlbedacht, mit welcher Intensität er den Schlag setzt, bekommt die zerborstene Fläche mehr oder weniger Tiefe. Die Intensität der Schläge formt die Konturen, die Risse breiten sich wie Pinselstriche aus und meißeln mit Schatten und Kontrasten Stück für Stück ein menschliches Porträt aus der Fläche heraus. Nicht gleich offenbart sich das Gesicht, doch das ist Teil dieser Kunst, auch den richtigen Blickwinkel zu finden, den jeder Betrachter für sich selbst finden soll.

Simon Berger
Mit einfachen Mitteln bringt der ausgebildete Tischler das Schönste zum Vorschein.

Ein Gesicht geben

Was sofort auffällt, ist, dass es sich um weibliche Porträts handelt, die in den Spiegeln und auch in der Glasplatte des Tisches dargestellt sind. Und das hat einen besonderen Grund: Die Kunstwerke thematisieren die vermeintliche Zerbrechlichkeit der Frauen, die ihnen von der Gesellschaft angedichtet wird. Auch wenn Frauen und Glas auf den ersten Blick nicht vergleichbar erscheinen, sind sie sich in Wirklichkeit viel ähnlicher, als man denken könnte. Denn obwohl beide traditionell als zerbrechlich gelten, zeigen sie Stärke und Ausdauer. So steht die Unzerbrechlichkeit von Glas für die Stärke einer Frau, die in der Lage ist, die gläserne Decke – eine Metapher für die Gesellschaft – zu durchbrechen. Wie die Frauen haben auch die Glasplatten ein unsichtbares Backup, das sie unzerstörbar macht: Sie werden als Sicherheitsglas von einer unsichtbaren Folie zusammengehalten.

Simon Bergers Hammerschlag
Auf den ersten Schlag kommt es an: Mit ihm entscheidet sich das gesamte Kunstwerk.

Handschlagqualität

Das künstlerische Spiel mit Transparenzen, Fragilität und Licht ist eine Hommage an das Porträt und insbesondere an Gesichter mit weiblichen Zügen, die der Künstler als eine innere Schönheit hervorbringt, die auf den ersten Blick nicht sichtbar ist und die sich im Undenkbaren verbirgt. Die Umsetzung des Kunstwerks nimmt dabei vergleichsweise wenig Zeit in Anspruch, wie der Künstler selbst einräumt: Die Überlegungen, wo welcher Schlag auf die Glasplatte trifft, sind im Vorfeld die größte Herausforderung. Danach geht es voller Emotion und Leidenschaft im künstlerischen Workflow fast wie von selbst. Der Moment vor dem ersten Schlag ist der wohl spannendste, denn dieser entscheidet über den Rest des Kunstwerks. Dann taucht Simon Berger ein, voller Vertrauen, dass jede Berührung mit dem Glas sitzt. Sein Gefühl leitet sich dabei von jahrelangem Training ab, bei dem er sekundenschnell über die Intensität des Hammerschlags entscheidet. Denn es gibt kein Zurück.

An die Grenzen gehen

Mit seiner bewundernswerten Art der Kraftbeherrschung wie auch seiner Vorstellungskraft und seinem Mut zum Unkonventionellen arbeitet Simon Berger seit 2018 mit dieser Technik als Künstler und hat sich damit einen internationalen Namen gemacht. Zu den sieben Werken des Vorjahres für Gallotti & Radice – darunter der Tisch und kleine Porträts – ist es 2023 nun eine ganz neue Spiegelkollektion als nicht reproduzierbare, limitierte Auflage. Das italienische Unternehmen, gegründet in den 1950er-Jahren, hat selbst seine Wurzeln in der Glasverarbeitung. Auf dieser gemeinsamen Liebe zu Glas beruht die große Affinität zur Arbeit des Künstlers. Auch hier setzt Simon Berger seine ganz eigene plastische Sprache ein, die die Tiefen seines Materials erforscht und eine Kunstform offenbart, die in der Lage ist, ein Gefühl der Freiheit und der Wiedergeburt zu suggerieren, Überwindung von Barrieren und Hindernissen, deren Protagonisten sogenannte „Kriegerinnen“ sind, die ihre Fähigkeiten und Ressourcen zugunsten der Selbstbehauptung und des Identitätsgefühls einsetzen.

Gleiches Material, anderer Zugang

Mit seiner Ausstellung „Shattering Beauty“ begeisterte Simon Berger auch ein kunstaffines Publikum im Museo del Vetro di Murano in Venedig. Dort, wo die Glaskunst seit Jahrhunderten perfektioniert wird, zeigte der Künstler dieses Frühjahr rund zwanzig neue Werke, die speziell für die Räume des Glasmuseums konzipiert und geschaffen wurden, als eine immersive Installation, die den Besucher zum Nachdenken über die Macht und Ausdruckskraft des menschlichen Gesichts anregen soll. Auch hier bekam Bergers Morphogenese eine wertschätzende Bühne für seine außergewöhnlichen Gemälde, die nachklingende und nachdenkliche Eindrücke hinterlassen werden.

Branchen
Malerei Glas