Stark

Wasser trifft Stahl

15.03.2022

Der Bau eines Kraftwerks erfordert anspruchsvolle Stahlkonzepte und einen Stahlhersteller, der wesentlich höhere Zähigkeitswerte als vorgeschrieben liefern kann.

Die Entwicklung von Wasserkraftwerken ist herausfordernd.  Anspruchsvoller Stahlkonzepte, große Bauteilabmessungen und hohe Stückgewichte verlangen viel Erfahrung und die enge Zusammenarbeit aller Projektbeteiligter. Bei der Erweiterung des Kraftwerks Kaunertal in Tirol/Österreich setzte Andritz Hydro, Anbieter von elektromechanischen Ausrüstungen und Dienstleistungen für Wasserkraftwerke auf den Grobblech-Experten Dillinger. Auf dem alpinen Hochtal in 2.000 Meter Höhe sollte durch Zubau eines künstlichen Speichersees als Oberstufe, einer zweiten Unterstufe sowie eines zweiten Kraftwerks die Kapazität um knapp 1.000 MW auf 1.370 MW erhöht werden. Dadurch wurde das bisherige Durchlaufwerk in ein Pumpspeicherwerk umgewandelt. Abrisse auf der Hangoberfläche erforderten zudem den Ersatz der bestehenden Druckrohrleitung durch eine neue Leitung unterhalb der Gleitlinie des Hangs. Bei ihrem Neubau galt es, auch die anstehende Vergrößerung der Kraftwerksleistung bereits zu berücksichtigen. 

Hohe Ansprüche

Montage eines Abzweigers im Druckstollen des Kraftwerks Kaunertal. © Andritz Hydro
Montage eines Abzweigers im Druckstollen des Kraftwerks Kaunertal. © Andritz Hydro

Mit dem Bau dieser Druckrohrleitung wurde Andritz Hydro nach einem außergewöhnlich komplexen Vorauswahlverfahren beauftragt. So erhielten die potentiellen Lieferant*innen dieser Leitung vom Auftraggeber Bleche, um diese nach speziell entwickelten Verfahren auf Basis der ausgewählten Schweißzusatzwerkstoffe in ihren Schweißbetrieben zu verarbeiten. Ein unabhängiges Prüfinstitut überprüfte die Ergebnisse auf ihre Eignung für den Einsatz im Berg mit den anspruchsvollen TOFD- und Phased-Array-Prüfverfahren. Das Urteil floss in eine erste Bewerberbewertung mit ein. Die Verformung der Bleche zu einem Rohr mit über vier Metern Durchmesser und unterschiedlichen Wandstärken sowie das Schweißen von Rund- und Längsnähten waren maßgebliche für die Wahl der geeigneten Blechehersteller*innen. Außerdem galt es, Stahllieferant*innen zu finden, die wesentlich höhere Zähigkeitswerte als von der Norm vorgeschrieben nachweisen konnten. Als maximal zulässige Streckgrenze erlaubte der Kunde Stähle der Güte S620. Für die Bifurkationen – Abzweigungen der Druckrohrleitung mit fünf Meter Durchmesser – galten darüber hinaus besondere Anforderungen an Größe und Dicke der eingesetzten Bleche. In Dillinger, als Experte für maßgeschneiderte Grobbleche, fand Andritz Hydro den gesuchten Partner: „Dillinger ist ein Experte für große Wandstärken“, erläutert Andritz Hydro – Vice President Penstocks & Gate Helmut Friedl die damalige Wahl. Er ergänzt: „Zudem hat Dillinger eine größere Quette als andere Hersteller und kann somit diese anspruchsvollen Bleche nicht nur in der geforderten Dicke, sondern auch in entsprechend großen Abmessungen liefern.“ Nach intensiven Diskussionen wurde das von Dillinger entwickelte Stahlkonzept verabschiedet. Auf dieser Basis produzierte der Stahlhersteller dann eigens für die Bifurkationen im Kraftwerk Kaunertal den hochfesten Markenstahl Dillimax S620 QL in den Dicken 90 bis 120 Millimeter. „Eine der großen Herausforderungen im Bau von Pumpspeicherwerken mit Rohrdurchmessern von fünf Metern und mehr ist die Stahlgüte“, erklärt Helmut Friedl die Bedeutung der entsprechenden Herstellerkompetenz. Mit dem Durchmesser steigt auch die benötigte Wandstärke. Eine wirtschaftliche Fertigung der Kraftwerkskomponenten ermöglichen nur hochfeste, gut schweißbare Stähle, die eine Ausführung mit dünneren Wandstärken und dadurch kürzeren Fertigungs- und Montagezeiten erlauben. Zur höheren Festigkeit trägt das Kohlenstoffäquivalent (CEV) bei. Gute Schweißbarkeit der Stähle erfordert aber ein möglichst niedriges Kohlenstoffäquivalent. „Dillinger war bereit und fähig, für Kaunertal eine Lösung mit einem CEV unter dem Normwert zu entwickeln, die zugleich die Anforderungen an die maximal erlaubte Streckgrenze und Dimensionen erfüllte“, lobt Friedl. 2016 wurde die neue Druckrohrleitung des Wasserkraftwerks Kaunertal in Betrieb genommen. Die Inbetriebnahme der Oberstufe erfolgt voraussichtlich im Jahr 2032.

Stahlwasserbauprojekt der Superlative

Vertikalkrümmer für einen der Vertikalschächte im PSW Nant de Drance. © Andritz Hydro
Vertikalkrümmer für einen der Vertikalschächte im PSW Nant de Drance. © Andritz Hydro

Beim Ausbau des Pumpspeicherwerks Nant de Drance in den Walliser Alpen in der Schweiz bewährte sich die Zusammenarbeit von Andritz Hydro und Dillinger einmal mehr. Mit 900 MW installierter Leistung zählt dieses Wasserkraftwerk derzeit zu den leistungsstärksten in Europa. Sechs Francis Turbinen mit jeweils 150 MW Leistung machen Nant de Drance hochflexibel: In weniger als fünf Minuten kann das Kraftwerk bei Bedarf bei voller Leistung zwischen Pump- und Turbinenbetrieb wechseln. In einem geschlossenen Kreislauf nutzt Nant de Drance den Höhenunterschied von zwei bestehenden Stauseen. Verbunden werden sie durch zwei parallele, vertikal verlaufende Triebwasserwege, die jeweils drei Pumpturbinen in einer riesigen Maschinenkaverne in 600 Meter Tiefe bedienen. Jeder dieser Triebwasserwege besteht aus einem zwei Kilometer langen Druckstollen und einem 425 Meter langen Vertikalschacht mit bis zu sieben Meter Durchmesser. Der Auftrag umfasste Planung, Konstruktion, Lieferung, Montage und Inbetriebnahme der gesamten Ausrüstung. Die Bauteile für den Triebwasserweg wurden größtenteils vor Ort auf engstem Raum in Kavernen vorgefertigt. Für die Panzerung der Vertikalschächte hatte der Kunde zudem vorgegeben, lediglich die oberen und unteren Krümmer mit Stahl auszukleiden und die weniger druckbelasteten Teile mit vorgespanntem Beton zu panzern. Bei der Wahl der hierfür eingesetzten Stähle setzte Andritz Hydro erneut auf Qualitätsstähle von Dillinger. Insgesamt 3.276 Tonnen Stahl in bis zu 130 Millimeter Dicke lieferte der Grobblechspezialist für die Druckrohrleitung. Vor der Kaverne teilen sich die Vertikalschächte in Abzweiger mit unterschiedlichen Durchmessern. Im oberen Bereich, wo die Drücke noch nicht so hoch sind, kamen die thermomechanisch gewalzten S355-Bleche von Dillinger zum Einsatz. Sie erlaubten das Schweißen mit größerer Streckenenergie. Für die Panzerung der Krümmer wählte man Dillimax Markenstahl S690 QL1. Im oberen Abzweig wurden damit Wanddicken zwischen 29 und 90 Millimetern ausgeführt. Im unteren Krümmer am Fuß des Vertikalschachts wurde dieser Stahl bei allen Abzweigelementen für eine bis zu 55 Millimeter dicke Panzerung verwendet. Auch die Gehäuse der Schütze wurden aus diesem hochfesten vergüteten Stahl gefertigt. Für Bauteile mit besonderer Querzugbeanspruchung wie die Flansche im oberen Krümmer am Zugangsstollen und die innenliegenden Sichelbleche der Abzweiger wählte man bis zu 130 Millimeter dicke Grobbleche der Güte S690 QL1+Z35. Ende Mai 2020 erfolgte die Nassinbetriebnahme des Pumpspeicherkraftwerks Nant de Drance, indem die beiden Triebwasserwege erstmals befüllt wurden. Die vollständige Inbetriebnahme des Kraftwerks ist für das Jahr 2021 geplant.

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