Brennpunkt
Betriebsblindheit: Runter mit den Scheuklappen!
Never change a running system“: Nie ein funktionierendes System zu verändern, galt in vielen Unternehmen lang als Maxime. Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist das allerdings ein fast schon gefährlicher Leitsatz. Aber warum eigentlich etwas ändern, wenn es eh gut läuft und Routinen im Betrieb zum gewünschten Ergebnis führen? Weil es dazu führen kann, dass neue Entwicklungen oder nötige Veränderungen übersehen werden, die für die Zukunft wesentlich sein können. Der Arbeitsalltag verstellt dabei oft den Blick auf nötige Veränderungen – Betriebsblindheit stellt sich schneller ein, als man denkt. Aber was braucht es, um Prozesse schlau und nachhaltig zu hinterfragen?
Perspektiven ermitteln
„Wir unterscheiden hier zuallererst ganz klar zwischen Routinen und Standards“, so Lorenz Kilga, Managing Director bei Design Network. Als strategischer Markenentwickler weiß er, wie die Branche tickt und entwickelt seit vielen Jahren gemeinsam mit seinem Team wettbewerbsfähige Lösungen. „Während Routinen sich im Laufe der Zeit entwickeln, schaffen Standards klare Vorgaben, die Sicherheit, Kontinuität und Qualitätsstandards schaffen.“ Und aus seiner Sicht ist es wesentlich, diese standardisierten Prozesse immer wieder aus der Ferne zu betrachten. „Tischlereien tappen sehr schnell in die Falle, Dinge immer wieder so zu machen, wie sie schon immer gemacht worden sind.“ Hier hilft also der Blick von außen – gepaart mit der Innovationskraft, die ohnehin schon im Betrieb vorhanden ist: den eigenen Mitarbeitenden. „Wir arbeiten stark daran, genau das zu sehen und zu fördern“, so Kilga weiter. Dabei wird mitunter schon mal ein eigenes Change-Team im Betrieb etabliert, das sich mit folgenden Fragen beschäftigt: Was muss ich können, liefern und tun, damit der Prozess weiterläuft und sich verbessert? „Bei Betriebsblindheit taucht oft der Wunsch nach mehr Struktur auf. Hier ist wichtig, ganz genau zu schauen, in welchen Bereichen mehr Struktur gewünscht und sinnvoll ist.“ Anforderungen und Wünsche seien nämlich unterschiedlich. „Eine gute Ausrichtung, gegenseitiges Verständnis und klare Kommunikation sind die Grundpfeiler für eine gute Struktur“.
Gemeinsam ins Tun kommen
Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Prozesse, die hinterfragt werden können. „Bei uns ist es oft der Auftragsprozess. Viele unserer Kunden sagen ‚Wir wissen eh, was wir tun““, erklärt Kilga. Dann beginnt oft der wirklich spannende Teil der gemeinsamen Arbeit: „Wir schauen gemeinsam genau hin und beginnen, zu hinterfragen – am Ende stehen meist viele wichtige Aha-Momente.“ Größtenteils notieren die Mitarbeitenden in Betrieben ihre Prozesse für sich selbst und ermitteln, was sie getan haben, was sie dafür können müssen und was geändert werden muss, damit der Prozess gut weiterlaufen kann. „Diese individuellen Notizen sind ein riesiger Schatz. Wir fassen diese Ergebnisse zusammen und machen daraus ein Handbuch. Der Vorteil: Dieses Handbuch ist in der Sprache der Mitarbeitenden verfasst und damit ein großartiges Entwicklungstool. Plus: Es führt dazu, dass sie sehen, dass ihre Meinung geschätzt wird“, erklärt Lorenz Kilga. Gemeinsam ins Tun kommen anstatt von oben herab etwas überstülpen, heißt also die Devise. Damit werden nicht nur Prozesse klarer und nachhaltig besser, sondern auch die Unternehmenskultur profitiert davon. „Wenn ich Mitarbeitende mitreden lasse und Verantwortungsbereiche klar definiere und zuteile, entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl, das nachhaltiges Wachstum ermöglicht.“
Am Puls der Zeit bleiben
„Wiederkehrende Routinen schaffen Sicherheit. Als Menschen sind wir Gewohnheitstiere – viele von uns wehren sich deshalb auch erstmal gegen Veränderungen“, so Mario Kwas von der Fachhochschule (FH) Wiener Neustadt. Er ist als Leiter des Masterstudiengangs Entrepreneurship & Applied Management täglich mit Menschen im Austausch, die ein Business aufbauen wollen oder in Generationennachfolge ein KMU übernehmen. „In volatilen Zeiten ist Veränderung allerdings an der Tagesordnung. Wenn ich als Unternehmen auf hohem Niveau arbeite, bemerke ich es vielleicht nicht so stark. Wenn die Umsätze sinken, wird es allerdings schnell eng.“ Kwas, der vor seiner Lehrtätigkeit lange als Geschäftsführer eines klein- und mittelständischen Industriebetriebs tätig war, weiß, wovon er spricht. Und hat auch gute Erfahrungen mit Ideen, die von außen in den Betrieb eingebracht werden: „Mein Chef war damals froh über meine Inputs, weil er selbst gemerkt hat, dass er und sein Team schon betriebsblind waren.“ Ob man diesen Umstand als positiv oder negativ bewertet, liegt laut Kwas stark an der Unternehmenskultur – und der Wille zur Veränderung beginnt auf Chefebene. „Alle Unternehmen wünschen sich Stabilität, volle Auftragsbücher, zuverlässige Lieferanten und zufriedene Kunden. Aber wenn ich mich nicht aktiv damit auseinandersetze und diese Prozesse regelmäßig hinterfrage, bleibe ich langfristig nicht am Puls der Zeit.“
Planungshorizonte neu bewerten
Apropos Zeit: Wo sich früher Planungshorizonte über mehrere Jahre hinweg bewegt haben, ist innerhalb der letzten fünf Jahre deutlich mehr Tempo gefragt. „Wir sind seit einigen Jahren mit Ereignissen konfrontiert, die wesentliche Einflüsse auf die unternehmerische Planung haben: Von der Pandemie über die Teuerung bis hin zur Energiekrise und den Fachkräftemangel.“ Die Schwierigkeit dabei: Ereignisse in diesem Ausmaß kann niemand vorhersagen und die wirtschaftlichen Auswirkungen erfordern mehr Veränderungswille und damit auch Flexibilität. „Gerade jetzt gilt: Die Augen verschließen und sich unter der Decke verkriechen, ist keine gute Idee – selbst, wenn das Geschäft (noch) gut läuft“. Wir sind also alle von den Umständen betroffen, die Richtungsänderung kann laut Mario Kwas nur gemeinsam gelingen. „Wenn Mitarbeitende in den Veränderungsprozess nicht eingebunden werden, wird es schwierig, weil sie in der Regel vor vollendete Tatsachen gestellt werden.“ Nach dem Motto: „Betroffene zu Beteiligten machen“ regt der Experte Unternehmen dazu an, Mitarbeitende aktiv einzubinden: So wird Veränderung leichter von allen mitgetragen und auch die Bindung an das Unternehmen wird stärker.
Sparringspartner
Aber braucht es dabei immer eine externe Person, die Veränderung möglich macht? „Es gibt Führungskräfte, die haben einen guten Blick nach außen, die brauchen vielleicht eher eine Beratung für die internen Prozesse. Und dann gibt es Unternehmen, die haben den Fokus stark nach innen gerichtet, hier lohnt sich oft jemand, der den Blick nach Außen bewusst fördert“, so Kwas weiter.
Ein Sparringspartner ist also in jedem Fall hilfreich, Problem dabei: „Externe Berater haben leider oft ein sehr schlechtes Standing, weil sie in der Regel Veränderung anstoßen – hier kommt es stark auf die Wahl der Person und ihrer Expertise an, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich.“ Auch bei einem Generationenwechsel im Betrieb ergibt sich oft die Chance, mögliche sinnvolle Veränderungen einzuläuten. „Wenn die alte Generation das Ruder nicht übergeben will und nicht loslassen kann, wird das allerdings schwierig. Hier lohnt es sich, Spezialisten an Bord zu holen, die auf einer Metaebene unterstützen.“
Fehler sind Helfer
Eine großartige Möglichkeit, Betriebsblindheit zu verhindern, ist eine wenig gesehene: eine offene Fehlerkultur. Wie jetzt – Fehler können gut sein? Absolut, schließlich gibt es dadurch die Möglichkeit, zu lernen und Dinge neu zu denken. „Darüber hinaus sind Mitarbeitende, die sich trauen, Fehler zu machen auch eher bereit, innovativ und kreativ zu denken. Ein perfekter Nährboden für Weiterentwicklung also“, ist Kwas überzeugt. Genau solche Gedanken treffen aber oft auf Widerstand – und der kann bei Veränderungen nicht nur recht groß, sondern manchmal sogar hilfreich sein: Nämlich dann, wenn er Dinge aufzeigt, die nicht funktionieren. Daher sollte man ihm in jedem Fall genug Raum geben. Denn Widerständler wollen sich eingebunden fühlen – Chefs täten gut daran, sich genau solche Personen als interne Berater zur Seite zu holen.
Stetiger Perspektivenwechsel
Genau das macht übrigens auch Klaus Nenning, Geschäftsführer der Tischlerei Lenz Nenning in Dornbirn. „Klarheit in Prozessen bringt aus meiner Sicht enorme Effizienz und Geschwindigkeit – um das aufrechtzuerhalten, braucht es manchmal einen externen Blick“, erzählt der Vorarlberger Landesinnungsmeister. „Viermal pro Jahr gönnen wir uns für einen ganzen Tag einen Berater, der unsere Prozesse von außen beleuchtet und hinterfragt.“ Dabei zeigen sich nicht nur neue Blickwinkel, durch die Expertise des Beraters im Bereich Holzwirtschaft können auch Erfahrungswerte von anderen Tischlereien eingebracht und gegebenenfalls umgesetzt werden. Für Nenning ist also der stetige Perspektivenwechsel absolut notwendig, um Betriebsblindheit vorzubeugen. „Wir versuchen hier wirklich, immer sehr offen zu sein und wollen auch von anderen lernen. Schließlich kann man selber nicht immer alles wissen.“ Deshalb investiert der Unternehmer auch Zeit und personelle Ressourcen, um andere Betriebe zu besuchen und von dortigen Prozessen zu lernen – vor allem im technischen Bereich. Am meisten lerne man allerdings oft von Mitarbeitenden, die von einem anderen Betrieb kommen und einen ganz frischen Blick aufs eigene Unternehmen mitbringen. Diese Perspektive sei unbezahlbar. Genau das funktioniere laut Nenning allerdings nur, wenn man sich selber in die Karten schauen lässt: „Auch wir sind immer bereit, unsere Erfahrungen und Lernschritte mit anderen zu teilen – unsere Tür ist offen.“ Ganz unabhängig von der Betriebsgröße rät Nenning allen Tischlereien dazu, ihre Prozesse in regelmäßigen Abständen zu überdenken: „Wenn man immer das Gleiche macht und Veränderung nicht zulässt, ist der Rückschritt fast vorprogrammiert. Auch Fragen und Impulse von Mitarbeiter*innen sind Gold Wert – auf dieses Potenzial kann und sollte man nicht verzichten.“