Die Norm als Dorn – im Auge
Ein Forschungskonsortium rund um die Zukunftsagentur Bau (ZAB) befasst sich mit einer Önorm zur Heizlastberechnung von Gebäuden. Deren Schwäche: Sie schreibt leistungsstarke Heizungsanlagen vor, die in der Praxis oftmals gar nicht benötigt werden.

Den Anstoß zum Projekt gaben Fälle wie diese: Ein Tiroler Bauunternehmen hält sich bei der Auslegung der Heizanlage für ein Bürogebäude exakt an die relevante Önorm. Es stattet das Gebäude mit vier Wärmepumpen aus – mit dem Ergebnis, dass das völlig überdimensioniert ist und selbst an den kältesten Wintertagen nur zwei bis drei dieser Pumpen in Betrieb sind. Ein anderer Betrieb versucht es bei seinem Projekt besser zu machen: Es lässt eine Heizungsanlage installieren, die die Räume auf die vorgeschriebenen Temperaturen erwärmt, ohne überdimensioniert zu sein. Dabei hält er sich aber nicht an die Önorm, die eine deutlich leistungsstärkere Anlage vorsehen würde – mit dem Ergebnis, dass der Betrieb geklagt wird und in einem aufwendigen Verfahren belegen muss, dass die Anlage den Anforderungen genügt.
Mehr Heizung als notwendig
Besagte Önorm trägt die Bezeichnung H 7500-1. Sie sorgt bei den Mitgliedsbetrieben des heimischen Baugewerbes für große Irritationen, weil sie Anforderungen stellt, die sich in der Praxis als völlig überzogen herausstellen. Und das lässt sich durchaus auch in Zahlen ausdrücken: Markus Leeb, Forschungsgruppenleiter Adaption of Built Environments an der FH Salzburg, schätzt, dass „hier ein Einsparungspotenzial von 25 bis 35 Prozent besteht“. Gunther Graupner, Geschäftsführer der Zukunftsagentur Bau (ZAB) ergänzt: „Das Beispiel der vier verbauten Wärmepumpen, von denen selbst in Spitzenzeiten aber nur zwei bis drei in Betrieb sind, verdeutlicht das Einsparungspotenzial sehr gut. Wir sprechen in der Bauwirtschaft viel über leistbares Wohnen und nachhaltiges Bauen – wenn man das ernst nimmt, sollte man derartige Einsparungspotenziale nutzen.“
Graupner und Leeb nehmen das Thema ernst. ZAB und FH Salzburg haben gemeinsam mit dem Planer und Entwickler Arne Komposch vom Haustechnik-Netzwerk WP Plus ein Forschungsprojekt gestartet, in dem sie wissenschaftlich untersuchen, wie stark die Vorgaben der Önorm H 7500-1 von den in der Praxis tatsächlich benötigen Leistungen abweichen und wie man die Norm anpassen könnte.
Die wesentliche Schwäche der umstrittenen Norm sehen Experten in den Vorgaben, die sie für die Berechnung der notwendigen Heizleistung macht – die Fachleute sprechen hier von der „Heizlastberechnung“. Hier leistet sich die H 7500-1 tatsächlich diverse grobe Schnitzer: So berücksichtigt sie keine „internen Gewinne“. Dabei handelt es sich um Wärme, die Menschen oder Geräte erzeugen, die sich in einem Raum befinden. „Eine Person gibt eine Wärmeleistung von 80 bis 100 Watt ab, ein Notebook rund 50 Watt. Das sind signifikante Werte“, meint FH-Forscher Leeb.
Ähnlich ignorant geht die Norm mit „solaren Gewinnen“ um. Das ist, der Name verrät es, die Wärme, die durch Sonneneinstrahlung entsteht. Auch im Winter kann das an einem wolkenfreien Tag eine ganze Menge sein. Schwachpunkt Nummer drei: Die Norm sieht nur eine stationäre Berechnung vor. Das bedeutet, dass die Heizleistung für einen ganz bestimmten Zeitpunkt berechnet werden muss, an dem es besonders kalt ist. Je nach örtlicher Lage des Objekts sind bestimmte Temperaturwerte vorgeschrieben, die eine Heizungsanlage zu bewältigen hat. In Salzburg sind es beispielsweise minus 12,7 Grad, in Wien minus 11,3 Grad. „Das sind Werte, die in den vergangenen 20 Jahren sehr selten erreicht wurden. Man plant hier für den Worst Case, statt realistische Werte heranzuziehen“, meint ZAB-Geschäftsführer Graupner.
Fachleute wie Graupner und Leeb schlagen vor, statt der stationären Messung eine dynamische Simulation vorzunehmen. Dabei zieht man die Werte einer Kälteperiode von einigen Wochen über den gesamten Tagesverlauf als Berechnungsgrundlage heran. Die Norm berücksichtigt zudem auch nicht die Fortschritte, die in den vergangenen Jahren bei der Dämmung gemacht wurden. „Je besser die Außenhülle isoliert ist, desto größer werden die Differenzen zwischen Norm und Praxis“, meint Graupner. Und damit nicht genug. Die in die Jahre gekommene Norm vernachlässigt auch die Wärme, die in den Bauteilen gespeichert ist. „Das ist ebenfalls ein ganz wichtiger Faktor. Viele Baustoffe wie beispielsweise bauteilaktivierte Betonwände haben eine hohe Speicherkapazität“, so Leeb.
In dem Forschungsprojekt untersuchen die Experten nun die Heizlastberechnung auf Basis der Önorm H 7500-1 für ein sogenanntes „Niedrigstenergiegebäude“. Sie erstellen Berechnungen für je zehn Gebäude in Holzbauweise und in klassischer massiver Ziegelbauweise. Diese Ergebnisse vergleichen sie einerseits mit Werten, die sie aus Simulationen erzielen, und andererseits mit umfassenden Monitoring-Daten von Wärmepumpenherstellern. Leeb: „Dadurch erreichen wir ein möglichst genaues, aussagekräftiges Bild.“ In einem nächsten soll in dem Projekt dann konkrete Vorschläge gemacht werden, wie man die H 7500-1 adaptieren könnte. „Es geht darum, leistbare Wohnen und nachhaltiges Bauen zu ermöglichen – ohne dass den ausführenden Unternehmen die rechtliche Keule der Haftungsklage droht. Die jetzigen Regelungen sind oftmals innovationsfeindlich.“
Das Projekt fügt sich nahtlos in einen Schwerpunkt, den die ZAB in ihren Forschungsaktivitäten setzt: „Bauen außerhalb der Norm“. Die Bauzeitung hat über das Projekt mit dieser Bezeichnung in ihrer Ausgabe 14/2024 berichtet, das von der Bauinnung initiiert wurde. Dabei wurde untersucht, inwieweit von Vorschriften abgewichen werden und dabei gleichzeitig eine vergleichbare Qualität in der Umsetzung von Bauprojekten erreicht werden kann. Und wie kann man den rechtlichen Rahmen schaffen, damit ein Abweichen von den Normen ohne Haftungsklage möglich ist. Im deutschen Bundesland Bayern gibt es bereits mit der Bauklasse E eine konkrete Regelung dazu.
Ungefähr ein Drittel der rund ein Dutzend Forschungsprojekte, die die ZAB derzeit durchführt, befassen sich mit dem Themenkomplex Normen vereinfachen und leistbares Bauen. Ein weiterer großer Schwerpunkt liegt auf dem Themenfeld Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeitsberichterstattung und Kreislaufwirtschaft. ZAB-Geschäftsführer Graupner: Die ZAB bietet Unterstützung für übertragbare Lösungen und anwendbare Innovationen, die damit den Weg Richtung Klimaneutralität ebnen.“