Wohnen neu denken: das Potenzial des Bestands
Mit kritischem Blick analysiert die Ausstellung „Suburbia“ im Az W den Traum vom Einfamilienhaus im Speckgürtel, der nicht nur für die Umwelt problematisch ist, sondern auch psychologische und gesellschaftliche Konsequenzen hat.

Im Gespräch erläutern die Kuratorinnen Lene Benz, Katharina Ritter und Agnes Wyskitensky, wie das Suburbia Konzept der USA auch in Europa Fuß gefasst hat und welche Alternativen es gibt.
Architektur und Bau FORUM: Der Bestand der Einfamilienhäuser in Österreich reicht für die Personen, die sich diese Wohnform wünschen. Man könnte sie adaptieren. Sie haben erwähnt, dass es dafür Beispiele gibt, aus der Steiermark, aus Vorarlberg oder auch aus Bayern. Welche Konzepte greifen und wie werden die Projekte angenommen?

Lene Benz: In der Ausstellung zeigen wir 13 Projekte zum Weiterbauen im Bestand und zur Umnutzung. Bei einem Beispiel aus Vorarlberg von Julia Kick geht es um ein Einfamilienhaus aus den 50er/60er Jahren. Es wurde umgebaut, als die ältere Bewohnerin ihre Enkelin samt Familie einlud, einzuziehen. Die andere Enkelin, Architektin Julia Kick, übernahm den Umbau. Das Projekt erhöhte die Wohndichte und schuf im Erdgeschoss eine Einliegerwohnung für die ältere Dame und eine Pflegekraft. So konnten auch externe Personen ins Haus integriert werden, mit Blick auf künftige Pflegebedürfnisse.
Das „Sauriassl-Syndikat“ in Bayern entstand aus dem Mietshäuser-Syndikat (in Österreich: Habitat). Es kauft Häuser auf und vergesellschaftet sie – „Eigentum wird zu Gemeintum“.
In Altötting wurden Einfamilienhäuser umgebaut und nachverdichtet, sodass zwei bis drei Wohneinheiten entstehen. Ergänzt wird dies durch lokale Energie- und Mobilitätskonzepte. Der Hausaufkauf ermöglicht gemeinwohlorientiertes Wirtschaften mit Mietpreisen von acht Euro pro Quadratmeter.
Die gezeigten Projekte fordern ein Umdenken im Wohnen – wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das Einfamilienhaus mit Garten steht für Lebensqualität, Sicherheit und Stadtnähe. Die Mietskaserne galt lange als Notlösung, wird aber heute durch Sanierungen zu wertvollen „Altbau-“ oder „Gründerzeitquartieren“. Welche weltanschaulichen Hintergründe offenbaren sich hier?

Katharina Ritter: In der Ausstellung räumen wir mit dem Einfamilienhaus als Urtyp des Wohnens auf – der Idee, „zurück zum Ursprung“ ins Familienhaus zu kehren. Früher lebte man im Dorf mit Hof oder in der Stadt nahe der Produktion. Wohnen und Arbeiten waren nie getrennt – erst die Mobilität, zunächst mit der Eisenbahn, dann aber besonders dem Auto, machte dies möglich.
Diese Modelle sind relativ jung und waren ideologisch immer umkämpft. Zu Beginn der Industrialisierung boomten die Städte plötzlich, boten schlechte hygienische und katastrophale räumliche Bedingungen. Unterschiedliche Konzepte begannen zu greifen. In Wien reden wir da vom „Roten Wien“, dem großen Wohnbauprojekt Anfang des 20. Jahrhunderts, um genau diesen Missständen entgegenzuwirken. Schon davor wird das Einfamilienhaus von z. B. der Heimatschutzbewegung unterstützt und auch der Nationalsozialismus greift es als antiurbanes Gegenmodell wieder auf. Der Rückzug ins Private, ins Individuelle bedeutet eben auch, sich nicht in der Gemeinschaft zu mobilisieren, nicht zusammenzurücken oder zu „rotten“, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man das betrachtet.
Die Stadt galt oft als Ort der Unsittlichkeit, während die Kernfamilie als moralisch gefestigte, patriarchal geprägte Einheit idealisiert wurde. Diese Vorstellungen sind eng mit ideologischen Strömungen und politischen Parteien verknüpft.
Und was wir oft vergessen: nach dem Zweiten Weltkrieg war in Europa die Hochzeit des Kalten Krieges. Deutschland und Österreich lagen genau an der Grenze zwischen Ost und West. Die Förderung von Eigenheimen, der Kauf von Grund und Boden waren Maßnahmen, um dem Kommunismus gegenzusteuern. Denn Menschen, die Haus, Grund und Boden besitzen, werden nicht kommunistisch wählen.
Man muss sich vor Augen führen, wie der Marshall-Plan nicht nur den Konsum in Europa, sondern damit auch die amerikanische Wirtschaft extrem angekurbelt hat. Denn wenn ich ein Haus baue, dann brauche ich auch ein Auto, einen Kühlschrank, eine Waschmaschine. In der Mietgesellschaft hingegen gibt es eine Waschküche und man teilt sich gewisse Dinge. Das widerspricht einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das darauf abzielt, dass jeder Haushalt diese Geräte selber kauft.
Was auch reinspielt, ist diese psychologische Komponente, dass dann quasi die Frauen alle außerhalb der Stadt in Suburbia oder im Speckgürtel sitzen, und dort allein mit ihren Kindern oder mit dem Haushalt raufen und Vereinzelung erfahren. Sie nennen den Teil der Ausstellung „Queen of the Home“ und erwähnen, dass es um gebaute Rollenbilder geht.

Lene Benz: Während des Zweiten Weltkrieg oder schon davor haben viele Frauen einerseits Bildung genossen, aber auch gearbeitet, teilweise in systemrelevanten Berufsfeldern, wurden dann aber mit dem Boom der Einfamilienhäuser und einem Babyboom in die Häuser gesetzt und dort „abgestellt“.
Mit diesem neu zugesprochenen „Beruf“ konnten sie kein Geld verdienen und waren demnach abhängig. Für viele war das nicht der Traum. Es gibt Studien, dass viele Frauen unglücklich waren, bis hin zu Depressionen und Tablettenabhängigkeit. Auch durch die Grundrisse wurden patriarchale Systeme bestätigt. Die Küchen waren geschlossene Räume und die Frauen darin unsichtbar, während die Männer von der Garage direkt ins Arbeitszimmer gehen konnten, ohne mit der restlichen Familie in Kontakt treten zu müssen.
Einiges davon wird heute immer noch so gebaut. Zum Beispiel der Gedanke von Mutter, Vater, Kind: wenn man an ein Einfamilienhaus denkt, gibt es Schlafzimmer und Kinderzimmer. Das ist nach wie vor nicht weg zu denken.
Haben die Frauen das damals nicht gemerkt, dass sie so ausgetrickst werden? Gibt es heute im Gegensatz dazu Konzepte von Einfamilienhäusern, die diese Rollenaufteilung anders aufschlüsseln würden? Oder ist das Einfamilienhaus per se Ausdruck dieser patriarchalen Ordnung?
Agnes Wyskitensky: Es gab schon ab den 60er-Jahren feministische Gegenbewegungen. Aber sie waren in der Minderheit. Wenn man sieht, wie dieses Bild popkulturell in Film, Fernsehen und Literatur massiv vorgelebt und beworben wurde, versteht man, wie gefangen Frauen in diesem Konzept waren. Wenn man heute vom Einfamilienhaus spricht, dann weiterhin von dieser Kleinfamilie. Es gab aber immer schon Wohnkonzepte für andere Lebensideale oder andere Formen des Zusammenlebens. Die klassische Kernfamilie gibt es ja nur ein paar Jahre. Die Kinder ziehen irgendwann aus. Die Ehen in Österreich halten durchschnittlich 10,4 Jahre.
Es gibt Forschungen seitens Studierender, die Menschen über ihre Zufriedenheit befragt haben. Was sind die Erkenntnisse?

Agnes Wyskitensky: Die TU Wien hat schon mehrfach eine Lehrveranstaltung zum Thema Einfamilienhaus durchgeführt, die sich mit dem Fachdiskurs, also Basiswissen, Daten und Fakten, aber auch Themen der Raumplanung befasst. Die Studierenden führten mit Hausbesitzer*innen entlang eines Fragenkatalogs ausführliche Interviews. Die Ergebnisse haben sie in Postkarten festgehalten, die wir in der Ausstellung zeigen. Es geht um alltägliche Geschichten, wie man sich zum Hausbau entschieden hat, wo und wie man baut, welche Probleme aufgetreten sind, wie es weitergehen soll, also ganz realitätsnahe Dinge. Dem gegenüber stellen wir Daten und Fakten, die wir recherchiert haben, zu Flächenverbrauch und Zersiedelung, aber auch, wie sich die Lebensformen im Laufe eines Lebenszyklus verändern und wie lange die Häuser dazu passen.
Das Bezeichnendste für uns war, dass fast 50 Prozent der Häuser heute nur noch von zwei Personen bewohnt werden. Sobald die Kinder ausziehen, eine Ehe scheitert oder sich der Arbeitsort ändert, passt das Haus oft nicht mehr zum Leben. In solchen Fällen bieten Transformationsprojekte überzeugende Lösungen.
Solche Alternativen sind in den Städten viel sichtbarer, zum Beispiel Co-Housing. Aber es gibt sie auch in ländlichen Regionen, bei Einfamilienhäusern oder ganzen Siedlungen.

Agnes Wyskitensky: Es gibt es viele sehr weltoffene Wohnformen nicht nur in der Großstadt, sondern auch auf einer kommunalen, also gemeinschaftlichen Ebene, mit anderen Formen von Kindererziehung, anderen Formen von Teilen und Gemeinschaft. Das wird breitentauglicher. Um diese Orte sinnvoll zu nützen, braucht es auch Mobilitätskonzepte. Und genau so wie diese Propagandamaschine für das Einfamilienhaus gefahren wurde, braucht man mehr Werbung für tolle neue Wohnformen.
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