E wie einfach oder experimentell
In Deutschland soll noch heuer ein Gesetz verabschiedet werden, das es ermöglicht, beim Bauen von Normen abzuweichen, wenn die Sicherheit gewährleistetet ist. Stichwort: Gebäudetyp E. Auch in Österreich drängt der Bau auf eine Reform der Rechtslage – durchaus mit Aussicht auf Erfolg.

Er begann seinen Vortrag mit einer unerwarteten Aussage: „Dass Deutschland hier einen Schritt voraus ist, freut mich. Meistens ist Österreich ja innovativer.“ Zwar regte sich gegen den zweiten Teil des Statements der ein oder andere Widerspruch im Publikum. Dessen Aufmerksamkeit hatte sich Fabian Blomeyer, Geschäftsführer Recht und Verwaltung der Bayerischen Architektenkammer, allerdings mit dem höflichen Kompliment schon mal gesichert.
Freundlicher Gast
Der freundliche Gast aus Bayern war Ende März der Top-Speaker am „Baustammtisch“ des heimischen Normungsinstituts Austrian Standards in Wien. „In der Höhle des Löwen“ – Zitat Blomeyer – referierte er über einen Ansatz, mit dem in Deutschland derzeit versucht wird, die Flut an Regeln, Gesetzen und Normen im Bauwesen zu bekämpfen. Am Tag, bevor die Ampelregierung in Deutschland zerbrach, beschloss sie im vergangenen November noch ein Gesetz zur Deregulierung am Bau, das unter dem Stichwort „Gebäudetyp E“ bekannt geworden ist. Mit dem Scheitern der Regierung wurde auch das Gesetz auf Eis gelegt. Die neue Regierung hat allerdings signalisiert, dass sie das Thema im Laufe dieses Jahres erneut aufgreifen und das Gesetz umsetzten will.
Der Anstoß für den Gebäudetyp-E kommt aus Bayern. Das E steht für „einfach“ und „experimentell.“ In Bayern arbeitet man bereits seit einiger Zeit mit dem Ansatz. Bauen in Deutschland ist so wie in Österreich aus Sicht viele Experten zu kompliziert und zu teuer. „Mit dem Gesetz soll es einfacher werden, beim Neubau auf die Einhaltung von Standards zu verzichten, die für die Wohnsicherheit nicht notwendig sind. Der Neubau von Wohnungen soll dadurch bezahlbarer werden. Gleiches gilt für den Um- und Ausbau sowie die Instandsetzung von Bestandsbauwerken“, erläutert die Bayerische Ingenieurskammer.
In Bayern gilt bereits seit August 2023 ein sogenanntes „Recht auf Abweichung“ in der Bauordnung. Fachkundigen Unternehmen und ihren Planern wird damit ermöglicht, gezielt für das jeweilige Vorhaben Vereinbarungen zu treffen, ohne die derzeit noch als anerkannte Regeln der Technik bestehenden Normen im ganzen Umfang beachten zu müssen. Wichtige Bedingung dabei: Die Sicherheit muss gewährleistet sein.
„Normen sind immer ein Abbild dessen, was eine Gesellschaft sich als Standards leisten will. Daher verändern sich Normen laufend“, meinte Architektenkammer-Geschäftsführer Blomeyer bei seinem Auftritt in Wien. „Aber wir haben in den vergangenen zehn Jahren eine Kostensteigerung erlebt, die es unmöglich macht, Wohnungen zu angemessenen Preisen herzustellen.“ Das, so der Referent aus Bayern weiter, liege natürlich nicht nur an den Normen, aber sie hätten ihren Teil dazu beigetragen. Er ortet eine „gewisse Unzufriedenheit“ mit den Normen „Der Gebäudetyp E ist eine Initiative, das Bauen wieder auf die eigentlichen Schutzziele zu konzentrieren.“
Die konstatierte Unzufriedenheit mit den Normen teilt Anton Rieder. Der Tiroler Bauunternehmer und stellvertretende Bundesinnungsmeister des Baugewerbes stößt sich ebenfalls am stetig wachsenden Dickicht an Baustandards in Form von Bauordnungen und technischen Normen, das das Bauen immer aufwendiger und teurer macht – und es zudem erschwert, den CO₂-Fußabdruck des Bauwesens zu reduzieren. Rieder: „Normen kennen leider nur eine Richtung: Es werden immer mehr.“
Rieder verdeutlicht das Problem mit einem einfachen Beispiel aus der Praxis: „Als ich vor fast 40 Jahren die HTL begonnen habe, benötigte man für einen Kubikmeter Beton 50 Kilogramm Bewehrung. Heute sind es 100 Kilogramm. Wir haben bessere Planungssoftware und bessere Materialien – und dennoch brauchen wir immer mehr. Da stimmt etwas nicht.“
Rieder schaut mit Interesse auf die Entwicklung im deutschen Nachbarland. Er belässt es allerdings nicht bei der Rolle des Zuschauers. Er ist Initiator des Forschungsprojekts „Bauen außerhalb der Norm“, in dem untersucht wurde, inwieweit von Vorschriften abgewichen werden und dabei gleichzeitig eine vergleichbare Qualität in der Umsetzung von Bauprojekten erreicht werden kann. Zudem wurde analysiert, welche gesetzlichen Maßnahmen hierfür in Österreich notwendig wären. Die Bauzeitung berichtete in ihrer Ausgabe 14/2024.
An dem Forschungsprojekt haben neben dem Baugewerbe auch die Kammer der Ziviltechniker, die Rechtsanwaltskanzlei Heid & Partner und die Universität Innsbruck teilgenommen. Im Zuge des Projekts wurden mehrere Beispiele ausgearbeitet, die zeigen, wie man durch ein „sinnvolles Abweichen von Normen eine ausreichende Qualität, aber mit geringeren Kosten als mit den Standard-Anforderungen, erreichen kann“, so die Projektpartner in einem Statement.
In einem Beispiel wurden verschiedene Vorgangsweisen für den Bau einer massiven Geschossdecke berechnet: In der herkömmlichen Bauweise nach der DIN 4109-5 benötigt man für diese Decke 864 kg Stahl, 48 m² Schalung und 8,64 m³ Beton. Die Decke würde 5.091 Euro kosten. Alternativ wurde kalkuliert, welchen Effekt die Reduktion der Stahlbetonschicht von 18 auf 14 cm haben würde. Das Ergebnis: Die Trittschalldämmung würde sich um vier bis sechs Dezibel reduzieren, die Tragfähigkeit wäre aber nicht beeinträchtigt. Die Einsparung bei Beton und Stahl hätte signifikante Effekte: Eine Reduktion der Kosten um neun Prozent und der CO₂-Emissionen um 19 Prozent. Das Beispiel zeige, „dass Kosteneinsparungen relativ leicht möglich sind, ohne dabei das übliche Sicherheitsniveau für die Nutzer zu beeinträchtigen“, so ein Projektteilnehmer.
Die Rechtsanwaltskanzlei Heid & Partner hat sich angeschaut, was rechtlich notwendig wäre, damit diese technischen Möglichkeiten genutzt werden können. Die naheliegende Lösung: Es könnte – wie in Deutschland beim Gebäudetyp E – eine Bestimmung im Baurecht verankert werden, die „dem Bauwerber einen Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Bewilligung trotz Abweichung von technischen Normen gibt“, erläutert Daniel Deutschmann, Projektleiter bei Heid & Partner. Dazu ist jeweils eine Anpassung der Bauordnung auf Bundeslandebene notwendig. Zudem wäre es sinnvoll, im Zivilrecht zu verankern, dass es zulässig ist, von Normen abzuweichen. Das muss auf Bundesebene geschehen.
Bauunternehmer Rieder ist guter Dinge, dass die „kleine Anpassung in der Bauordnung“ in seinem heimischen Bundesland Tirol demnächst vorgenommen wird. „Das wurde bereits zugesagt“. Er hofft, dass auch die übrigen Bundesländer und der Bund dem Beispiel rasch folgen werden. Rieder: „Es geht darum, dass Planer und Ausführende wieder ein gewisses Maß an Freiheit und Selbstverantwortung erlangen.“