PORTRÄT
Werken in Wien
Für eine Tischlerei ist Wien wahrlich kein einfaches Pflaster – wer hier überleben will, der braucht nicht nur handwerkliches, sondern gleichsam unternehmerisches Geschick, weiß Tischlermeister Michael Johann. Als Tischler gehöre man schließlich zu einem der letzten produzierenden Gewerbe – doch dafür benötigt er Räume, damit er sägen, schleifen, lackieren oder furnieren kann. "Als Tischler braucht man Platz, und der ist in Wien bekanntermaßen Mangelware“, erklärt der Tischlermeister. "Außerdem sind die Fixkosten in der Stadt grundsätzlich höher wie am Land. Damit muss man umgehen können. Auf der anderen Seite haben wir als Handwerker hier den großen Vorteil, dass wir genau dort sind, wo die Arbeit gerade gebraucht wird. Das bedeutet, ich habe äußerst kurze Lieferwege und bin auch für Kunden gut erreichbar. Außerdem finde ich es einfach schön, in einer so geschichtsträchtigen Stadt wie Wien arbeiten zu dürfen.“
Überleben in der Großstadt
Seit sein Vater den Tischlereibetrieb vor über fünfundvierzig Jahren in der Schanzstraße im Keller eines Altbaus eröffnete, hat sich die Branche radikal verändert. Damals sei das Tischlergewerbe in Wien noch eine boomende Branche gewesen, wie sich Johann heute erinnert: "In den Siebzigerjahren ließ sich im Holzhandwerk noch gutes Geld verdienen, damals war die Konkurrenz aus der Industrie auch noch nicht so stark. Heute sind wir in unserer Straße der einzige Betrieb, der noch immer existiert.“ Grund dafür sei, dass viele Unternehmen es nicht rechtzeitig geschafft hätten, die Produktion der sich veränderten Marktlage anzupassen. Bereits vor fünfzehn Jahren habe Johann erkannt, dass ein Tischler in der Großstadt nur dann überleben kann, wenn er laufend in neue Maschinen investiert, auf eine gehobene Fertigung setzt und bestimmte Bereiche der Produktion auslagert: "Ich habe relativ früh gesehen, dass ich mit meiner Betriebsgröße als reiner Produzent nicht überleben kann – auch aus Platzgründen. Dabei sind wir noch relativ gut gestellt, da wir vor fünfzehn Jahren die Räumlichkeiten des Nachbarbetriebes übernehmen konnten. Nichtsdestotrotz werden größere Zuschnitte bei uns von einem Zulieferer mit einem CNC-Bearbeitungszentrum gefertigt. Hier in der Werkstatt werden die Materialien geschliffen, furniert, lackiert und verbunden. Das lohnt sich für uns, denn dadurch können wir Verarbeitungsqualität und Oberflächenbeschaffenheit auf konstant hohem Niveau anbieten – Letzteres ist insbesondere im Küchenbereich und bei Bädern von großer Bedeutung“, erklärt der Tischler die unternehmerische Strategie.
Taten sagen mehr als Worte
Wenngleich das Handwerk durch den anhaltenden Fachkräftemangel vor zunehmende Herausforderungen gestellt wird, mache sich der Tischler über die Branche keine Sorgen. "Ich höre oft, es gäbe keine jungen Leute, die sich für das Handwerk interessieren. Das sehe ich anders. Klar, von alleine kommt der Nachwuchs nicht ins Haus. Da muss man den Schubabsolventen schon auch was bieten“, erklärt Johann. Demnach seien Tischlereien nicht nur gut beraten, die Website laufend auf den aktuellen Stand zu bringen, sondern den Mitarbeitern ein möglichst flexibles Arbeitszeitmodell zu bieten: "Bei mir erhält jeder meiner zehn Mitarbeiter zweihundert Urlaubsstunden, die er je nach Bedarf in Anspruch nehmen darf. Außerdem arbeiten zwei meiner Tischler im Arbeitszeitmodell einer Vier-Tage-Woche, was meiner Ansicht nach eine tolle Sache ist.“
Damit noch mehr junge Menschen den Weg ins Handwerk finden, sei es jedoch auch wichtig, den Stellenwert der Lehre gegenüber einer akademischen Ausbildung anzuheben, wie der Tischlermeister mahnt: "Hier in Wien gibt es einen regelrechten Akademisierungswahn. Ich frage mich, woher das eigentlich kommt. Die Eltern denken: Hauptsache, das Kind geht studieren und der Rest zeigt sich dann schon irgendwie. Das funktioniert so natürlich nicht – aber um dem entgegenzuwirken, bräuchte es eine Aufwertung der Lehre. Da sehe ich insbesondere die Politik in der Pflicht. Von alleine wird sich jedenfalls nichts verändern, da braucht es mehr als nur ein paar schöne Worte.“