Varietät aus Prinzip

Gebäudeplanung
01.06.2015

 
Wohnbau − ein historischer Streifzug − Teil 2 In dieser in Ausgabe FORUM 01–02/15 gestarteten Serie wollen wir architektonische Leistungen der Vergangenheit aufgreifen, um Impulse für aktuelle Wohnbauthemen zu bieten. In Teil 2 stellen wir die Eschensiedlung in Deutschlandsberg von Eilfried Huth vor, die von 1972 bis 1992 in sechs Bauabschnitten mit insgesamt 110 Wohneinheiten errichtet wurde.
Ausgangspunkt für die Eschensiedlung in Deutschlandsberg von Eilfried Huth (1972 bis 1992 errichtet) war die Idee, die große Nachfrage nach Einfamilienhäusern auch innerhalb der niedrigen Einkommensgruppen zu befriedigen.
Ausgangspunkt für die Eschensiedlung in Deutschlandsberg von Eilfried Huth (1972 bis 1992 errichtet) war die Idee, die große Nachfrage nach Einfamilienhäusern auch innerhalb der niedrigen Einkommensgruppen zu befriedigen.

von Andrea Jany

Ich weiß noch, wie ich in einem engen Raum bei offenem Fenster an Fernweh litt und ich träumte vom Raum, vom unendlichen Raum mit den weißen Wolken am blauen Himmel“, schreibt Eilfried Huth über sich selbst. Eilfried Huth gilt als der „Papst der Partizipation“, und dies zu Recht. Nicht nur wegen seiner zahlreich geplanten und realisierten Wohnbauprojekte mit Nutzerbeteiligung, sondern durch seine grundlegenden Gedanken und Reflexionen zum Thema Wohnen. Erstmals hat er diese in der Eschensiedlung umgesetzt. Um die Siedlung und deren Prinzipien zu verstehen, ist es jedoch notwendig sich zunächst mit der Person Eilfried Huth auseinanderzusetzen.
Geboren wurde Eilfried Huth 1930 auf Java/Indonesien, wo er seine ersten Lebensjahre verbrachte. „Ich denke zurück an meine Zeit in Indonesien, wo durch die klimatischen Umstände der Raum zum Wohnen einfach Schutzfunktion hatte, Schutz vor Monsunregen, vor der heißen Sonne, Schutz vor den Tieren – trotzdem dünnwandig und transparent und eher provisorisch, da die Inszenierung mit ihren Formen in Zwischenzonen stattfand, die in den freien Naturraum übergingen.“ Im Kindesalter übersiedelte er mit seinen Eltern nach Deutschlandsberg. Er maturierte in Graz und studierte anschließend Architektur an der Technischen Hochschule Graz. Es folgten Jahre der freischaffenden Tätigkeit, bis er 1963 zusammen mit Günther Domenig in Graz und München eine Bürogemeinschaft gründete. Gemeinsam bearbeiteten sie Projekte wie die Pädagogische Akademie in Graz Eggenberg, den Pavillon in der Schwimmhalle am Olympiagelände München und das Restaurant Nord am Olympiagelände München. Für das Projekt „Stadt Ragnitz“ gewannen sie gemeinsam 1969 den Grand Prix International d’Urbanisme et d’Architecture in Cannes – mit Louis Kahn unter den Juroren. Auch künstlerische Projekte wurden gemeinsam entwickelt, u. a. Zellflex Zeltweg, die Kunstbiennale Trigon und das Medium Total – eine Wohnutopie.
Wissenschaftlich war Eilfried Huth als Gastprofessor an der Gesamthochschule in Kassel und ab 1985 als Professor an der Hochschule der Künste in Berlin tätig.

Das Wohnen neu denken
Der Beginn der Eschensiedlung fällt für ihn mit einem Groß­ereignis in München zusammen. „Die Terrorkatastrophe während der Spiele in München 1972, ein Einschnitt in mein Bewusstsein (...). Ich begann, die Aufgabenstellungen für die Umwelt und das Wohnen von Anfang neu zu denken (...), der erste Schritt, das Denkmodell zur Eschensiedlung“, beschreibt Huth die damalige Situation. Ab hier trennten sich auch die Wege von Domenig und Huth, und jeder verfolgte ganz unterschiedliche Projekte. Die Eschensiedlung in Deutschlandsberg erscheint, im Vergleich zu den großen und visionären Projekten, die zusammen mit Günther Domenig entstanden, sehr bodenständig. Die Realisierung eigener ästhetischer Ansprüche wurde hintangestellt. Dies jedoch nicht aus einem Unvermögen heraus, sondern zur Freiheit und Auslebung der Bedürfnisse und Wünsche der zukünftigen Bewohner. Eilfried Huth legte mehr Wert darauf, dass sich die Bewohner mit ihrem Zuhause identifizieren, „als dass die Projekte zum Wallfahrtsort von Architekturtouristen werden sollten“, so Huth selbst. Jedoch erspürt man erst beim näheren Betrachten das dahinterliegende Konzept. Huth selbst nennt dies die Varietät. Er definiert sie als Prinzip der Abweichung innerhalb der Art. Jedes Haus differenziert sich zu seinem Nachbar, in Summe bildet alles eine Einheit.

zeitgemässes, verdichtetes wohnen
Ausgangspunkt für die Eschensiedlung war die Idee, die große Nachfrage nach Einfamilienhäusern auch innerhalb der niedrigen Einkommensgruppen zu befriedigen. Die Gemeinde Deutschlandsberg stellte hierfür ein 40.000 Quadratmeter großes Grundstück zur Verfügung. Es sollte eine zeitgemäße Eigenheimsiedlung in verdichteter Form entstehen, die durch eine durchgehende primäre Konstruktion ihre Einheit, durch Freiheit im Ausbau jedoch ein vielfältiges Gesicht erhalten würde. Das Wohnmodell sollte sich in wesentlichen Zügen von dem damals üblichen Wohn- und Siedlungsbau unterscheiden. Die künftigen Bewohner wurden von Anfang an in den Planungsprozess eingebunden. Hierzu wurde die Öffentlichkeit durch Lichtbildvorträge, Diskussionsabende und Beratungen über das Bauvorhaben unterrichtet. Die Interessenten schlossen sich sodann zu einer Interessengemeinschaft zusammen, die ihrerseits einen Bauausschuss bestellte. Der Architekt mit seinem Team übernahm hier die Rolle der Betreuung, während die Stadtgemeinde als Grundbesitzer und Baubehörde die öffentliche Kontrolle ausübte.

das Ergebnis eines Prozesses
In den Jahren 1972 bis 1992 wurden sechs Bauabschnitte mit insgesamt 110 Wohneinheiten errichtet. Die Wohnnutzfläche der Häuser beträgt zwischen 104 und 150 Quadratmetern bei einer durchschnittlichen Bauplatzgröße von 320 Quadratmetern. Die Kelleranteile wurden aus Kostengründen und wegen des hohen Grundwasserstandes reduziert ausgeführt. Die soziale Herkunft der Bewohner war in den Bauabschnitten weit gestreut. Die Bandbreite erstreckte sich vom Hilfsarbeiter über Facharbeiter und Angestellte bis hin zum Lehrer und Werksleiter. Huth selbst sagt dazu: „Architektur ist das Ergebnis eines Prozesses, der seinen Ausdruck im unausgesprochenen sozialen Querschnitt findet.“ Die daraus resultierenden unterschiedlichen Voraussetzungen über finanzielle Mittel wurden durch die Möglichkeit der hohen Eigenleistung in der Bauphase kompensiert. Der Eigenleistungsanteil betrug bis zu 15 Prozent der reinen Baukosten. In erster Linie wurden hier Isolierungs- und Innenausbauarbeiten am eigenen Haus und auch in Form von Nachbarschaftshilfe ausgeführt. „Ungewollt ist er (der Architekt, Anm.) in die Rolle des Beteiligungsexperten hineingewachsen, der allerorten zu diesem Themenkreis gehört wird. Seine Bemühungen, an Schulen zu gehen und mit den Kindern das Wohnen zu lernen, runden dieses Bild von ihm ab“, liest man über ihn im Buch „Architektur-Investitionen, Grazer Schule: 13 Standpunkte“.Die konsequente Weiterführung seiner praktischen Erfahrung in der Bewohnerpartizipation mündete in Unterrichtsversuchen. Im Mai 1974 wurde der Unterrichtsversuch an der Mädchen-Hauptschule Deutschlandsberg und am Musisch-Pädagogischen Gymnasium umgesetzt. Später wurden diese auch an Grazer Schulen übernommen.  

Partizipation als innovativer Ansatz
Aufgrund des innovativen Ansatzes der Partizipation ist großes, internationales mediales Echo entstanden, das in zahlreichen Interviews, Reportagen und Artikeln bis nach Japan ­mündete. Friedrich Achleitner schreibt über die Eschensiedlung in seinem 1983 erschienen 2. Band, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert: „Die Anlage zeigt in einer sympathischen Weise, dass es zwischen einem ‚wilden Bauen‘ und einer ­‚Architektenarchitektur‘ ein breites Band des Konsenses und der Deckung geben kann.“ Das Wohnmodell Deutschlandsberg – die Eschensiedlung – zeigte einen innovativen Ansatz im Wohnbau: Der Architekt Eilfried Huth verstand sich mehr als Moderator und Begleiter denn als Künstler und Formengeber, der seiner ­Kreativität Ausdruck verleihen will. Die Reduktion von ausschließlich ­architektonischen Ansprüchen war ein mutiger Schritt, den kein ­anderer in dieser Konsequenz umgesetzt hat.

Die Zitate stammen aus:
Persönliche Interviews der Autorin mit Eilfried Huth im Zeitraum von Herbst 2013 bis Frühjahr 2015.

Aus der Literatur: Zach, Juliane: „Eilfried Huth, Architekt. Varietät als Prinzip.“ Berlin 1996.
Huth, Eilfried; Pollet, Doris: „Beteiligung Mitbestimmung im Wohnbau, Wohnmodell Deutschlandsberg Eschensiedlung, Arbeitsbericht 1972–1976“.

Zur Autorin
Dipl.-Ing. Andrea Jany studierte Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar und der Virginia Tech in den USA. An der Stanford University in den USA vertieft sie ihr Wissen über historische und gegenwärtige Zusammenhänge einer sozialen Demokratie. Sie arbeitete neun Jahre als Projektleiterin in der Planung. Ihr Schwerpunkt war hier der soziale Wohnbau. Sie ist Doktorandin der TU Graz und erforscht den sozialen Wohnbau der 1980er-Jahre in der Steiermark. Des Weiteren ist sie in der Wohnbauforschung tätig. Ihr Schwerpunkt liegt hier auf den Wohnbedürfnissen der Gesellschaft.

Branchen
Architektur