Interview und Podcast
“Es ist Zeit, radikal umzudenken”
Die viel beachtete Eröffnungsrede von Ulrike Herrmann auf dem diesjährigen Baukultur-Symposium "Interventa" in Hallstatt trug den bezeichnenden Titel "Einstürzende Neubauten". Um die Klimakrise zu bewältigen "reicht es nicht, nur nachhaltiger zu werden, es braucht eine tiefgreifende Neuausrichtung". So tiefgreifend wie sie etwa die Kriegswirtschaft Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg bedeutet hat. Damit provozierte sie erfolgreich Kommentatoren, wie zuletzt Zeit-Kolumnist Harald Martenstein, der ihr prompt Nordkorea-Phantasien unterstellte. Doch es lohnt sich genau hinzuhören, denn in vielen Punkten gibt die Faktenlage Ulrike Herrmann recht und bei der Umsetzung besteht sie in unserem Gespräch auf demokratische Prozesse. Doch lesen oder hören sie selbst.
Susanne Karr: In Ihrem Vortrag “Einstürzende Neubauten” bei der Interventa in Hallstatt haben Sie erwähnt, dass überhaupt nichts mehr neu gebaut werden darf - eine Steilvorgabe für die gesamte Bauwirtschaft. Sie haben aber ausgeführt, dass es weitere Aufgaben für die Bauunternehmen geben wird.
Dass man nicht mehr neu bauen darf, liegt an zwei Gründen. Der eine ist: Neubau ist mit riesigem Flächenfraß verbunden - in Österreich circa 11 Hektar, in Deutschland circa 60 Hektar pro Tag. Das können wir uns nicht leisten. Die Flächen werden gebraucht, um Wasser und CO₂ zu speichern und um Lebensmittel zu produzieren. Das zweite Problem ist: Baustoffe emittieren bereits in der Herstellung eine enorme Menge an CO₂, vor allem Beton, weil Zement durch Abspaltung von CO2 entsteht. Ohne Beton kann man aber faktisch nicht bauen.
Könnte man Holz nehmen? Oft heißt es: “Holz ist ein nachwachsender Rohstoff”, oder “Niedrigenergiehäuser und Passivhäuser sind die Lösung”. Oder man stellt ein Haus auf Stelzen und versiegelt weniger Boden.
Ich habe nichts gegen Holz, aber die bestehenden Wälder müssen stehen bleiben, denn das sind wichtige CO₂-Speicher. Und ältere Wälder speichern mehr CO₂ als junge. Außerdem brauchen auch Holzbauten Beton für ihre Stabilität, wie man beim Holzhochhaus in Wien sieht. Der Kern ist aus Beton. Die Vorstellung von einem reinen Holzhaus ist in den meisten Fällen nicht richtig.
Es spricht nichts gegen die Idee mit den Stelzen, und “Passivhaus” klingt besser als ein normales. Berechnungen zeigen aber, wie viel graue Energie in so ein Haus fließt, bevor es dann CO₂ spart. Nichts ist so energiesparend, wie ein Haus zu renovieren und zu ertüchtigen, also mit Wärmedämmung und Wärmepumpe zu versehen. Was meist vergessen wird: Wenn man auf der grünen Wiese baut, erzeugt man nicht nur CO₂ durch die Errichtung des Hauses, sondern auch durch mehr Verkehr.
Was soll aus der Bauwirtschaft werden, wenn sie nicht mehr neu bauen darf?
Immer notwendig ist Instandhaltung. Außerdem braucht man Umbau und Umnutzung. Man muss die Städte verdichten, damit mehr Leute auf der gleichen Fläche wohnen. Zudem erfordert Klimaschutz enorme Mengen an Bauten - angefangen bei Windrädern, über Gaskraftwerke und Pipelines für Wasserstoff, Wärmedämmung, Wärmepumpen. Die Bauwirtschaft braucht keine Angst haben, dass sie überflüssig wird.
Gibt es Alternativen zu Megastädten wie Seoul, Mexico City oder HongKong mit riesigen Apartmenthaüsern? Kann man die europäische Stadt in ihrem Aussehen oder ihrem Charakter erhalten?
Wir haben schon genug Flächen. Das Ziel wäre, die alten Strukturen wieder zu besiedeln und die bestehenden Gebäude tatsächlich zu nutzen. Wir haben auch große Leerstände auf dem Land und in den Kleinstädten. Wir erreichen die Grenzen der Verfügbarkeit. Das heißt nicht, dass wir keinen Ort zum Wohnen hätten. Sowohl in Deutschland wie in Österreich schwanken die Zahlen bei 45 bis 50 Quadratmetern pro Kopf. In dieser Rechnung sind die unbenutzten Wohnungen noch nicht enthalten, das sind in Deutschland ungefähr 1,5 Millionen. Wir haben genug Quadratmeter für jeden - das Problem ist eher die Verteilung der Flächen.
Bisher drängen Menschen in die Leute in die Städte. Wie kann man dieses Leben als erstrebenswert darstellen und dieses Narrativ umkehren?
Der Drang zur Stadt, zumindest in Europa, ist eigentlich falsch. Es wäre genau das Gegenteil - man muss auch zurück in Dörfer und Kleinstädte. Voraussetzung ist ein leistungsfähiges Glasfasernetz, damit die Leute dort arbeiten können. Sie drängen wegen der Arbeitsplätze in die Städte, nicht weil jeder unbedingt in der Stadt leben will.
Im Kapitalismus müssen sich Menschen der Frage unterordnen, was ökonomisch effizient ist in dem Sinne, möglichst viele Güter mit möglichst wenig Einsatz an Ressourcen und Arbeitskraft zu erzeugen. An diesem Grundgesetz des Kapitalismus, dem “Prinzip der Skaleneffekte”, lässt sich nichts ändern. Dieses Prinzip muss man aufheben und dort leben, wo es klimaneutral möglich ist.
Wir brauchen andere Prioritäten. Ein Umbau in eine klimaneutrale Gesellschaft erfordert staatliche Planung und Lenkung. Alle müssen dem prinzipiell zustimmen. Das wäre die totale Umkehr des jetzigen Denkens und der Abschied vom Kapitalismus - nicht der Abschied von der Wirtschaft. Dieses Umdenken wäre zentral beim Thema Bauen, weil die Immobilienwirtschaft 30 bis 40 Prozent der CO₂-Emissionen produziert.
Bei der Interventa konnte man sehen, dass Architekt*innen schon sehr weit sind und klar sehen, dass die Grenzen erreicht sind. Sie wollen nachhaltig und nicht mehr auf der grünen Wiese bauen. Das Problem sind Bauherren, die mit ihren Vorstellungen typische Vertreter der Mehrheitsgesellschaft sind. Im Augenblick ist die Mehrheitsgesellschaft nicht bereit zu akzeptieren, dass es planetare Grenzen gibt. Darüber wird zwar viel geredet und eine Konferenz zu Klima, Artenschutz etc. jagt die nächste. In der faktischen Praxis ändert sich aber fast nichts – als würden die Leute denken, wenn man darüber redet, hat man schon gehandelt. Ein ganz fataler, aber sehr menschlicher Fehlschluss.
Wie kann man eine Umkehr des Denkens erreichen? Sie haben ein Buch geschrieben, das sich sehr gut verkauft - man sieht, es gibt großes Interesse an der Thematik.
Ich konnte mir während des Schreibens nicht vorstellen, dass irgendjemand ein Buch freiwillig kauft, in dem steht: “Wir brauchen eine Art englische Kriegswirtschaft, in der gesamtstaatlich geplant wird, was der Einzelne noch verbrauchen kann.” Diese Wirtschaft war eine demokratische private Planwirtschaft, die mit dem Sozialismus von Stalin in der Sowjetunion zeitgleich nichts zu tun hatte. Es wurde nichts verstaatlicht, alles blieb privat. Eigentümer und Manager konnten machen, was sie wollten in ihren Fabriken. Sie mussten nur vorgegebene Produktionsziele erreichen, und die entstandenen knappen Güter wurden gerecht verteilt. Das System war so erfolgreich und beliebt, dass es noch nach dem Krieg weitergeführt wurde.
Das Buch stand – überraschend für mich! - ein Jahr auf der Spiegel-Bestsellerliste. Ich halte überall Vorträge, auch bei Banken, bei Immobilienentwicklern, Steuerberatern, KI-Experten, Ingenieuren, Automobilmanagern. Nicht alle finden meine Ideen toll - aber sie hören sich das an in der Hoffnung zu einem Alternativkonzept zu gelangen. An der Oberfläche bewegt sich zwar scheinbar nichts, aber in der tiefen Struktur der Gesellschaft spüren viele Leute, dass wir langsam Plan B brauchen. Das gilt nicht nur für diejenigen, die schon immer umweltbewegt waren. Das Thema ist auch nicht zu ignorieren – Extremwetterereignisse wie Regenfluten und Dürren häufen sich. Es kann jederzeit einen selber treffen. Davor ist niemand geschützt.
Gibt es etwas, das Sie uns am Schluss noch mitgeben wollen?
Dass die Bauwirtschaft sehr wichtig ist. Es gibt diese erstaunliche Statistik, dass inzwischen die gebauten Werke der Menschheit schwerer sind als das gesamte organische Material an der Oberfläche der Erde. Diese Vorstellung ist irre - gleichzeitig sieht man die Bedeutsamkeit. Schön wäre, wenn Bewegung reinkäme, um klimaneutral umzusteuern.
Vielen Dank für das Gespräch!