Dekarbonisierung
Klimaneutraler Gebäudesektor erst 2075?
Laut Branchenradar waren im Jahr 2023 in Österreich rund 1,9 Millionen Wohnungen und potentiell etwa 220.000 Nicht-Wohngebäude zumindest zum Teil thermisch-energetisch sanierungsbedürftig. Konkret waren knapp 1,8 Millionen Heizungen auf regenerative Wärmesysteme umzustellen, 13,4 Millionen Fenster zu tauschen sowie 332 Millionen Quadratmeter Dachflächen (bzw. die oberste Geschoßdecke) und 355 Millionen Quadratmeter Fassaden zu dämmen. Bezogen auf den Gebäudebestand waren das 35 Prozent aller Heizungsanlagen, 31 Prozent aller Fenster, 45 Prozent aller Dächer und 49 Prozent aller Fassaden.
Sanierungsquoten deutlich zu gering
Ziel der österreichischen Bundesregierung ist es, die Klimaneutralität im Gebäudesektor bis 2040 herzustellen. "Um diese Mammutaufgabe zu stemmen, müssten zum einen die Sanierungsquoten deutlich erhöht werden", erklärt Studienautor Andreas Kreutzer. Laut seinen Berechnungen müsste etwa die Sanierungsquote bei Heizungen von jährlich 0,8 auf 2,0 Prozent des Gebäudebestands angehoben werden. Bei Fenstern wäre ein Anstieg von 1,4 auf 1,8 Prozent und bei Dach- und Fassadendämmungen von 0,6 bzw. 0,7 Prozent auf 2,6 bzw. 2,9 Prozent notwendig.
"Zum anderen müsste man viel Geld in die Hand nehmen. Aus heutiger Sicht sind dafür Investitionen im Ausmaß von insgesamt 259 Milliarden Euro notwendig. Das entspricht in etwa dem Fünffachen der jährlichen Bauproduktion", so Kreutzer. Anmerkung der Redaktion, um das in eine Relation zu setzen: einen "mittleren dreistelligen Millionenbetrag" benötigen allein die ÖBB zur Instandsetzung der Westbahnstrecke nach dem Hochwasser. "Doch selbst wenn man das Geld dafür aufbringen würde, ist der definierte Zielpfad nicht zu schaffen", stellt der Studienautor fest.
Notorischer Personalmangel im Baugewerbe
Grund dafür seien die unzureichenden Personalkapazitäten im Bauhandwerk. Zwar sind seit 2014 rund 1,6 Millionen Personen aus dem Ausland nach Österreich zugewandert, doch nur 375.000 davon (rund 23 Prozent) konnten in den Arbeitsmarkt integriert werden. "Und von diesen zog es gerade einmal 32.000 Arbeitnehmer*innen in die Bauwirtschaft", beschreibt die Studie.
Gleichzeitig sind die Lehrabschlüsse in den für die thermisch-energetische Sanierung relevanten Gewerken signifikant gesunken. Haben im Jahr 2018 noch insgesamt rund 4.800 Auszubildende die Lehre erfolgreich absolviert, gab es 2023 nur noch 3.600 neue Gesellen. "Ungeachtet der insgesamt schrumpfenden Lehrlingszahlen, war die mitunter hohe Quote von nicht bestandenen Lehrabschlussprüfungen mit ein Grund für den Nachwuchsmangel. Im Lehrberuf Gebäude- und Installationstechnik, Maler und Beschichtungstechniker sowie Spengler bestand im vergangenen Jahr jeder Dritte die Abschlussprüfung nicht, bei Dachdeckern, Zimmerern und Maurern war es knapp jeder Fünfte", erklärt Andreas Kreutzer.
Dekarbonisierung des Gebäudesektors vor 2075 unrealistisch
"Auch unter der Annahme, dass sich in Zukunft mehr ausländische Fachkräfte rekrutieren lassen und die Ausbildungsquoten wachsen, ist eine vollständige Dekarbonisierung des Gebäudesektors vor 2075 unter den derzeitigen Rahmenbedingungen wenig realistisch", präzisiert Co-Autor Dominique Otto. Am wahrscheinlichsten ist die Erreichung der Zielmarke beim Fenstertausch. "Hier errechnen die Modelle eine Durchsanierung im Jahr 2042", so Otto. Der Heizungstausch sollte demnach 2046 abgeschlossen sein, eine vollständige thermische Sanierung aller Fassadenflächen indessen erst 2061 und beim Dach dauert es bis 2075.
Was ist nötig zur Zielerreichung?
Möchte man den Weg zu einem klimaneutralen Gebäudebestand beschleunigen, sind nach Meinung der Expert*innen von Branchenradar Marktanalyse unter anderem folgende Weichenstellungen empfehlenswert:
- Ausbau der Personalkapazitäten, zum einen durch gezielte Migration von Fachkräften ins Bauhandwerk, etwa durch Schaffung spezieller Anreize. Zum anderen durch die Verbesserung der Lehrlingsausbildung, um die Attraktivität von Handwerksberufen (auch für Mädchen) zu erhöhen und die Abschlussquoten zu verbessern.
- Erhöhung der Produktivität auf der Baustelle durch Verbesserung des Baustellenmanagements. Laut einer Studie der ETH Zürich wird auf den Baustellen im Schnitt nur 60 Prozent der Arbeitszeit in tatsächliche Bauleistungen umgesetzt. Der Rest geht durch personal- oder störungsbedingte Unterbrechungen, Auf- und Umräumen, Materialsuche oder Personalstehzeiten verloren.
- Umfassende Sanierungen stärker fördern: Die zeitgleiche Sanierung der Gebäudehülle (Fenster, Fassade, Dach), kombiniert mit dem Austausch des Heizungssystems ist nicht nur vergleichsweise kostengünstiger als Bauteilsanierungen (Einzelmaßnahmen), sondern auch für die Zielerreichung effektiver. Um die insgesamt deutlich höheren Investitionen zu stützen, müsste allerdings der Förderbonus erhöht werden. Zudem ist der Austausch des Heizungssystems in einem mindergedämmten Haus kontraproduktiv, da in diesem Fall die Heizleistung zu hoch bemessen werden muss. Der Wechsel von mit fossilen Brennstoffen befeuerten Heizsystemen auf Biomassekessel oder Wärmepumpen sollte daher nur bei thermisch optimierter Gebäudehülle gefördert werden
(bt)