Lehrlingsrekrutierung

Neue Wege, um für Lehrlinge interessant zu sein

Lehre
29.06.2022

Noch nie gab es in Österreich einen so großen Lehrstellenüberhang wie in diesem Jahr. Die Regierung hat zwar einige Gegenmaßnahmen im Köcher, es stellt sich aber die Frage, was Unternehmen tun können, um wieder mehr Menschen für die Lehre zu begeistern.

Die Zeiten, in denen sich Unternehmen ihre Lehrlinge aussuchen konnten, sind längst vorbei. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen können ein Lied davon singen. Sie sind im überdurchschnittlichen Maße von unbesetzten Ausbildungsstellen betroffen. Alleine im Bereich Gewerbe und Handwerk, dem größten Lehrlingsausbilder des Landes, gibt es etliche Berufe, wo händeringend Mitarbeiter*innen und Lehrlinge gesucht werden. Zu den Mangelberufen zählen beispielsweise Fräser*innen, Dreher*innen, Schweißer*innen, Tischler*innen, Zimmerer*innen und Dachdecker*innen.

Auch an anderen Parametern ist die Problematik deutlich zu erkennen. Ende Mai 2022 betrug der österreichweite Lehrstellenüberhang 13.645, sprich es gab 13.645 unbesetzte Lehrstellen. Eine gewaltig hohe Zahl, die im Vergleich zu Mai 2021, wo es "nur" 7.888 nicht besetzte Ausbildungsstellen waren, die zusätzliche Dramatik aufzeigt. Denn innerhalb eines Jahres kam es beim landeweiten Lehrstellenüberhang zu einer Steigerung von 137 Prozent.

Eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre

Der demografische Wandel und der Trend zur Akademisierung haben dazu geführt, dass dem Ausbildungssystem immer weniger Bewerberinnen und Bewerber zur Verfügung stehen. Daran wird sich in nächster Zukunft nicht so schnell etwas ändern. Ganz im Gegenteil, ohne Gegenmaßnahmen ist zu befürchten, dass es statt einer Entspannung der Lage zu einer Verstärkung der Problematik kommt. Der Fachkräftemangel, der jetzt schon enorm hoch und spürbar ist, würde  dadurch an Dynamik zulegen. Nicht umsonst haben 75 Prozent der bei der WKÖ-Sommerumfrage im Jahr 2021 befragten Unternehmen den Fachkräftemangel als die größte Herausforderung der nächsten Jahre bezeichnet.

Es muss noch an vielen Schrauben gedreht werden

In Österreich will man dieser Entwicklung mit der höheren beruflichen Bildung entgegenwirken. Im Fokus stehen verstärkte Möglichkeiten zur Weiterbildung nach der Lehre und damit verbunden bessere Karriere-Chancen. Die Pläne dafür wurden Ende Februar 2022 im Ministerrat verkündet, genaue Details liegen aber bis dato noch nicht vor. Auch beim aktuellen Entlastungspaket will man etwas für die Lehrlinge tun. Geplant ist die Verlängerung des Digi-Schecks, eine Fördermaßnahme in den Bereichen Digitalisierung, Klimaschutz und Internationalisierung, die es seit 2021 gibt und bisher von 6440 Lehrlingen in Anspruch genommen wurde. Sowohl die Politik als auch die Wirtschaft sind sich bewusst, dass das Image der dualen Ausbildung noch immer überschaubar ist. Der Grund dafür liegt nicht in der Ausbildungsqualität. In regelmäßigen Abständen werden die Lehrberufe an die Voraussetzungen der jeweiligen Branchen angepasst und das mit Erfolg, wie der Medaillenspiegel bei den Berufsmeisterschaften wie EuroSkills und WorldSkills zeigt. Doch das ist, trotz aller Werbekampagnen, in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt.

Nicht die Lehrlinge, die Betriebe müssen sich bewerben

Doch bevor die Weiterbildung nach der Lehre oder der Digi-Scheck ein Thema werden, braucht es Lehrlinge. Diesbezüglich sind die Unternehmen selbst stark gefordert. Mittlerweile heißt es bei der Lehrlingsrekrutierung noch aktiver zu sein und Wege zu gehen, über die man vor einigen Jahren nicht einmal nachgedacht hat oder die noch nicht zur Verfügung standen. Allen voran bedarf es eines kompletten Umdenkprozesses. "Wir sind am Übergang vom Arbeitgeber*innen-Arbeitsmarkt zum Arbeitnehmer*innen-Arbeitsmarkt", erklärt Roland Löffler, Experte und Projektleiter des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung. Das beutet, dass sich die Betriebe verstärkt bei den potenziellen Arbeitskräften und Lehrlingen "bewerben" müssen, nicht umgekehrt. In Deutschland ist das schon länger gelebte Praxis, in Österreich setzt es sich nun auch sukzessive durch. Löffler rät daher allen Betrieben die Vorteile der Ausbildung in ihrem Unternehmen besonders gut zu vermitteln und auch die Perspektiven für die Zeit nach der Lehre aktiv in den Rekrutierungsprozess aufzunehmen.

Ein Online-Folder bringt noch keinen Lehrling

Auch bei der Wahl der Rekrutierungskanäle heißt es neue Wege zu gehen. Natürlich liegt man mit der Teilnahme an Berufsorientierungstagen und Ausbildungsmessen, Schulkooperationen, Schnuppertagen und Mitarbeiterempfehlungsprogrammen auch heute noch richtig. Es gibt aber viele weitere Möglichkeiten, die man nicht außer Acht lassen sollte. In den letzten Jahren sind etliche interessante Rekrutierungsoptionen dazu gekommen. "Wenn sich die Zeiten ändern, dann braucht es andere Methoden", bringt es Robert Frasch, einer der führenden Experten Österreichs rund um die Berufsausbildung, auf den Punkt.

Viele Jugendlich konsumieren so gut wie keine traditionellen Medien wie Zeitungen und Zeitschriften. Sie sind mit ganz anderen Technologien und Kommunikationskanälen aufgewachsen. Ihren Alltag dominieren Mobiltelefone und Internet-Plattformen. Um sie anzusprechen braucht es also moderne Kanäle, wie Youtube, Whatchado, Instagram und TikTok. Im Minimum einen eigenen Bereich für Lehrlinge auf der Homepage des Unternehmens sollte es geben, wenn geht mit Kontakt- und Bewerbungsmöglichkeiten. Und dann am besten mit einer direkten Verbindung zur Chefetage, vielleicht sogar über WhatsApp. Oder wie Robert Frasch zu sagen pflegt: "Wenn man online erfolgreich sein will, reicht es nicht, wenn man einen Folder als pdf zum Download zur Verfügung stellt".

So ticken die Nachwuchskräfte von morgen

Die Jugend von heute denkt anders, handelt anders und lebt anders als ihre Vorgänger. In der Generationen-Definition gehören sie zur Generation Z, die auch Post-Millennials genannt wird. Die rund um die Jahrtausendwende und in den Jahren danach geborenen sind von Kind an daran gewöhnt, digitale Informationen zu verarbeiten und zu nutzen – sind also absolute "Digital Native", noch mehr als die Generation Y davor. Durch die selbstverständliche Nutzung von Handy, Notebook, Onlineforen und Social Media sind Interaktionen und der Austausch von Meinungen ein Teil des Alltags. Bei ihrer Erziehung standen sie im Mittelpunkt, was ihr Selbstbewusstsein gefördert hat. Bei ihnen steht der Wunsch nach Selbstverwirklichung und freier Entfaltung ganz oben auf der Liste. Ihnen sind Familie, Spaß und Freude im Leben und im Beruf wichtiger als der berufliche Erfolg.

Das Aufgabengebiet hat höchste Priorität

Erst wenn sie einen höheren Sinn in der Arbeit erkennen, wird auch Karriere eine Option. Daher sind für sie Themen wie Nachhaltigkeit und Unternehmensverantwortung (Corporate Social Responsibility) von großer Bedeutung. Ihr Interesse gilt daher Unternehmen mit einem guten Employer Branding, also mit einer guten Entwicklung und Positionierung. Laut der deutschen Personalberatungsagentur Junges Herz streben sie einen optimalen Mix aus Arbeitsleben und Freizeit an, haben hohe Ansprüche bei der Ausstattung des Arbeitsplatzes und wünschen sich regelmäßiges Feedback. Im Vordergrund stehen bei ihnen neben Spaß im Beruf auch ein gutes Arbeitsklima, das passende Arbeitsumfeld und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Letztes wird durch eine aktuelle Online-Umfrage der Video-Karriereplattform Whatchado bestätigt. Das Aufgabengebiet bei einem Job hat für die befragten Jugendlichen höchste Priorität. Was alles zusammen nicht bedeutet, dass die heutige Jugend weniger Leistungswillen zeigt - sie muss nur ganz anders motiviert werden.

Wissen und Erfahrungen anderer Gruppen nutzen

Um Lehrlinge für das eigene Unternehmen zu finden, könnte es auch helfen, den Fokus zu erweitern. Es ist nicht in Stein gemeißelt, dass nur Jugendliche, die gerade die vorgeschriebene Schulpflicht erfüllt haben, prädestiniert für eine Lehre sind. Maturant*innen und Studienabbrecher*innen sollten unbedingt mitgedacht werden. Und auch  ältere Arbeitnehmer*innen, die sich umorientieren möchten, können für einen neuen Beruf begeistert und als Lehrlinge gewonnen werden. Derzeit liegt der Anteil an Erwachsenen, die in Österreich eine Lehre absolvieren gerade einmal bei rund sechs Prozent. Die Ausbildungskosten sind zwar um eine Spur teurer, werden aber, je nach den Voraussetzungen, zu einem Teil vom AMS gefördert. Dafür winken mehrere Vorteile: So jemand eine Matura oder eine abgeschlossene Berufsausbildung hat, sind bereits Kenntnisse als auch Berufserfahrungen vorhanden und die Lehrzeit verkürzt sich im Allgemeinen um ein Jahr. Dazu kommt, dass sich ältere Berufseinsteiger*innen sehr bewusst für einen neuen Beruf entscheiden und daher nicht so schnell wieder wechseln.

Informationen & Experten zum Thema Lehre:

Lehre nach der Matura: https://www.wko.at/service/w/bildung-lehre/lehre-nach-matura.html

Lehre für Erwachsene: https://www.ams.at/arbeitsuchende/aus-und-weiterbildung/so-foerdern-wir-ihre-aus--und-weiterbildung-/foerderung-der-lehrausbildung

Agentur Junges Herz – Informationen über die Generation Z: https://www.agentur-jungesherz.de/generation-z/

Österreichisches Institut für Berufsbildungsforschung - öibf: https://oeibf.at

Robert Frasch, Netzwerk "lehrlingspower": https://www.lehrlingspower.at