Interview
Wieviel Grün braucht die Stadt?
Welche Möglichkeiten gibt es, dicht besiedelten, urbanen Raum zu begrünen?
Jürgen Preiss: Wenn die Stadt sich verdichtet, sind große Grünflächen wie Parkanlagen wichtig. Natürlich muss das eine frühzeitige Vorkehrung sein, denn wenn die Bebauung steht, geht das nicht mehr. Wirkungsvolle, mitgeplante Grünanlagen der jüngeren Zeit sind etwa der Helmut Zilk Park beim Wiener Hauptbahnhof oder der Seepark in Wien Aspern. Hier wurde schon in den ersten Planungsphasen festgelegt, dass diese Grünflächen klimatisch immens wichtig sind. Grundsätzlich gilt: Überall, wo Stadtentwicklung mit dichter Bebauung stattfindet, ist es wichtig, Grünräume einzurichten. Das Ziel in Wien ist ja, dicht zu bauen und in hoher Qualität zu bauen, um solche Freiräume auch realisieren zu können. Dabei geht es auch um das "Nachbarschaftsgrün" – Kleinkinderspielplätze, sprich grüne Freiräume im nahen Wohnbereich. Die Kinder sollen in "Rufweite" die Möglichkeit haben, zu spielen. Hier gibt es Standards der Stadt Wien. Und das wird auch akribisch geprüft und von den Bauträgern zum Beispiel im Rahmen von städtebaulichen Verträgen eingefordert.
In manchen Stadtteilen Wiens ist die Dach- und Fassadenbegrünung beinahe die einzige Möglichkeit, grüne Infrastruktur umzusetzen.
Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten. Speziell in der Bestandsstadt wird versucht, Entsiegelungsmaßnahmen durchzuführen. Es wird etwa untersucht, ob man Bäume in Straßenzügen pflanzen kann. Wenn das alles nicht geht, kann man sich ansehen, ob Dächer und Fassaden von Gebäuden begrünbar sind. Seit einigen Jahren wird das sehr stringent umgesetzt. In manchen Stadtteilen Wiens ist das beinahe die einzige Möglichkeit, grüne Infrastruktur umzusetzen. Und eine Möglichkeit mit viel Potenzial: Die gesamten Gebäudeoberflächen, also Dach- und Fassadenflächen, entsprechen fast der Hälfte der Wiener Stadtfläche. Das sind Oberflächen, die stadtklimatisch sehr relevant sind. Je dichter gebaut wird, desto wichtiger ist es, diese Flächen für Begrünung zu nutzen und sie auch für die Bewohner*innen, zum Beispiel in Form von Dachgärten, nutzbar zu machen. Doch gerade im öffentlichen Raum findet man viele Rahmenbedingungen vor, die eine Begrünung nicht leicht machen. Sie reichen von technischer Infrastruktur und unterirdischen Einbauten, bautechnischen und verkehrstechnischen Vorgaben bis zu Haftungsfragen. Es ist sehr komplex, hier Lösungen zu finden und bedarf des Zusammenschlusses aller Verantwortlichen, von Planern bis zu Politikern. Oft muss man sehr konsequent an einem Strang ziehen, um eine Lösung zu finden.
Lässt sich sagen, welche Form der Begrünung für das Stadtklima am effizientesten ist?
Das lässt sich recht genau sagen. Am effizientesten sind große Grünflächen mit Anteilen an Wald und offenen Wiesen. Offene Wiesen sind sehr wichtig zur "Durchlüftung". An zweiter Stelle kommen die Bäume, die besondere Kühlleistungen durch Beschattung und Verdunstung sowie viele andere ökologische Funktionen leisten. Ein Baum kann einfach ungleich mehr als ein Staudenbeet.
Wieviel Grün braucht bzw. bräuchte eine Großstadt wie Wien, um im Sommer kühlere Temperaturen zu erzeugen?
Das ist schwierig. Es gibt keine Obergrenze an Grün, und Wien hat sehr viel Grün. Woran es hakt, ist die optimale Verteilung. Diese Problematik ist vielerorts historisch gewachsen. Worauf man bei der Planung der Begrünung achten muss: Es ist nicht immer optimal, dicht zu pflanzen. Denn mit zu vielen oder falsch gesetzten Bäumen kann man die Durchlüftung wirksam verändern. Das kann Vorteile haben, wo starke Winddüsen auftreten, bei bestimmten klimatischen Verhältnissen aber auch Nachteile nach sich ziehen.
Fest steht, dass eine Beschattung durch Bäume sehr wichtig ist. Hier gibt es Messungen und Klimasimulationen, die das belegen. Die Baumüberschirmung aller Straßen in Wien wurde von der Stadt Wien, Abteilung Umweltschutz, genau untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass es eine sehr große Bandbreite gibt, von 0 bis zu 80 Prozent Überschirmung. Damit hat man natürlich eine tolle Wirkung. Wir haben im Rahmen dieser Untersuchungen eingefordert, dass öffentliche Freiräume zu mindestens 40 Prozent von Baumkronen überschirmt sein sollen. Dabei geht man von 30 Jahre alten Bäumen aus. Womit wir beim nächsten Punkt wären: Um überhaupt grüne Infrastruktur umsetzen zu können, braucht es ein gutes Wasserkonzept.
Welche Rahmenbedingungen sind für eine ausreichende Wasserversorgung der Stadtbäume nötig?
Mittels Schwammstadt-Prinzip, das sind unterirdische Speichersysteme, die das Niederschlagswasser für längere Zeit zurückhalten, können Stadtbäume gut versorgt werden. Es beginnt eigentlich schon bei der Dachbegrünung, wo der Niederschlag gut retendiert werden kann. Dasselbe gibt es im Freiraum, wo man unterirdische Speicher mit Grobschotter herstellt, der mit Sand, Schluff und organischem Material eingeschlemmt wird. Das Ziel dieser Systeme ist es, möglichst viel vom Niederschlagswasser zu speichern und langsam abzugeben. Vor allem in stark versiegelten Gebieten muss man diese Speicherkörper herstellen.
Mit Klimasimulationen können Bedarf und Auswirkungen von Begrünungen relativ genau berechnet werden. Eine sehr einfache Methode, um die Auswirkungen von bestehenden Begrünungen zu zeigen, sind Thermalaufnahmen.
Kommen wir zurück zum Hauptthema: Wieviel Grün braucht die Stadt? Wie lassen sich Bedarf und Auswirkungen von Begrünungen berechnen?
In Stadterweiterungsgebieten lässt sich der Bedarf sehr gut mittels Klimasimulation erheben. Das sind Computerprogramme, die anhand von dreidimensionalen städtebaulichen Modellen die Temperatur und Windverteilung in bestimmter Auflösung berechnen. Das ist eine sehr komplexe Thematik. Auf den Punkt gebracht: Man kann mit diesen Programmen in hoher Auflösung auf mikroskaliger Ebene die Verteilung der gefühlten Temperatur im öffentlichen Raum darstellen. Dabei lassen sich sowohl Bestandsituationen erfassen, als auch Planungsszenarien. Daraus können Bedarf und Auswirkungen von Begrünungen relativ genau berechnet werden. Eine sehr einfache Methode, um die Auswirkungen von bestehenden Begrünungen zu zeigen, sind Thermalaufnahmen.
Welche Projekte für die Quantifizierung und den Vergleich von Begrünungsmaßnahmen gibt es in Wien?
Da gibt es eine ganze Menge. Eines der ersten Projekte war der Wiener Praterstern, auch in der Seestadt Aspern wurde hier sehr viel gemacht. Beim gesamten Quartier Muthgasse wurden mit Klimasimulation verschiedene Szenarien bewertet und Empfehlungen abgegeben, welche die Planungen der einzelnen Baufelder und des öffentlichen Raums zukünftig begleiten sollen. Eines der spannendsten Projekte ist das Stadtentwicklungsgebiet Rothneusiedl, wo bereits die ersten Planungsschritte, nämlich der städtebauliche Wettbewerb für die Leitbilderstellung, mit Klimaanalysen begleitet werden. Dort wurde der Beginn eines Prozesses gestartet, bei dem laufend Optimierungen durchgeführt werden können. Damit soll sichergestellt werden, dass am Ende ein klimafitter Stadtteil entsteht und Fehler am Anfang gar nicht erst entstehen können.
In diesem Bereich ist auch viel in Entwicklung. Wir hoffen, dass es zukünftig ein digitales Klimamodell in hoher Auflösung für ganz Wien gibt. Gut wäre eine Auflösung von zwei bis vier Metern. Hier könnte man dann genau ablesen, wo die Hotspots sind. Das gibt es für große Gebiete, aber bei mehr als zwei bis drei Quadratkilometern stoßen die mikroskaligen Simulationsprogramme noch an ihre Grenzen. Ich bin mir aber sicher, dass das in absehbarer Zeit für ganze Städte möglich sein wird.
Wem sollen solche Messmethoden zur Verfügung stehen?
Allen Planungsbüros, die Freiraumplanungen durchführen – Städteplaner, Straßenplaner, Landschaftsarchitekten etc. Ich würde aber auch sagen, dass sie den städtischen Fachdienststellen und politischen Entscheidungsträgern zur Verfügung stehen sollten.
Werden damit Begrünungsmaßnahmen auch vermehrt in Normen oder Bauordnungen einfließen?
Ja. Die verbindlichen Rahmenbedingungen beinhalten bereits einige Festlegungen für die Umsetzung von grüner Infrastruktur. In der Wiener Bauordnungsnovelle beispielsweise ist festgelegt, dass zwei Drittel der gärtnerisch auszugestaltenden Flächen tatsächlich auch "Grün" ausgestaltet werden müssen. Das heißt, Schottergärten oder Terrassen sind dort nur noch ein einem geringen Ausmaß zulässig. Die Festlegung von Dach- und Fassadenbegrünungen wird in der Wiener Bauordnung schon länger geregelt, quantitativ werden Bauwerksbegrünungen heute in einem deutlich höheren Ausmaß, zum Beispiel intensive, statt extensive Dachbegrünungen, eingefordert.
Welche internationalen Städte sind grüne Vorbilder?
Berlin etwa hat strukturell Vorteile und mehr Möglichkeiten, Alleen und Grünflächen zu schaffen. Oder in Singapur zum Beispiel ist die Begrünung von Hochhäusern mit hohem Begrünungsfaktor festgelegt, als Kompensation für die vielen versiegelten Flächen.
Man kann aber sagen, dass Wien für viele andere Städte eine Vorreiterrolle hat mit seinen vielen Programmen und Fördermaßnahmen, wie zum Beispiel "Cooles Wien" mit Maßnahmen zur Dach- und Fassadenbegrünung sowie Entsiegelungsmaßnahmen. Die Stadt Wien, Abteilung Umweltschutz, hat etwa in den Jahren 2019 bis 2023 über 230 Bauwerksbegrünungen an privaten Wohngebäuden gefördert. Es ist geplant, derartige Förderungen in den nächsten Jahren zu forcieren, speziell auch in Richtung Entsiegelungsmaßnahmen.
Wie das Programm "Lebenswerte Klimamusterstadt", welches einen Fördertopf für die Umsetzung von stadtklimatisch wirksamen Maßnahmen für die Bezirke zur Verfügung stellt. Im Rahmen dieses Programms wurden in den letzten Jahren sehr viele Entsiegelungsmaßnahmen und Baumpflanzungen umgesetzt. Dabei ist auch Partizipation gefragt: Es gibt das "Wiener Klimateam", das Vorschläge der Bewohner*innen einholt, um klimawirksame Maßnahmen in einzelnen Bezirken umzusetzen. Zum Beispiel ist dabei die Wientalmauer im sechsten Bezirk begrünt worden. Die Stadt Wien unterstützt auch die Begrünung von Amtsgebäuden, von Schulen etc., hier sind in den letzten Jahren weit mehr als 50 Gebäude begrünt worden.
Was sind aktuelle Planungen, um Wien grüner zu machen?
Es gibt Entwicklungsprojekte für ganze Stadtgrätzel, wo man sich anschaut, wie man den Freiraum in sehr dichten und strukturell schwierigen Stadtteilen – auch mit Einbeziehung der Bewohner*innen – klimafit machen kann. Ein solches umfassendes Projekt ist "WieNeu+" im 10. Bezirk. Das ist ein sehr großes Gebiet, welches wir mit einer Klimaanalyse begleiten durften. Dabei wurden einige Empfehlungen abgegeben, beispielsweise sollen im Areal um den Quellenplatz Zonen mit guter Durchlüftung erhalten bleiben, zum Quellenplatz führende Straßen sollen mit Baumreihen ausgestattet werden, und es wurden ideale Kalmenzonen für Wasserspender ausgewiesen.
Eigentlich gibt es kaum ein Projekt, wo die Themen Stadtklima und Begrünung nicht überprüft werden, egal ob es sich um Straßenprojekte, Planungen von Schulgebäuden, Sanierungen oder Stadterweiterungsprojekte handelt.
Zur Person
DI Jürgen Preiss ist seit 2007 Mitarbeiter der Stadt Wien – Umweltschutz, leitender Stellvertreter des Bereichs Räumliche Entwicklung; Projektleiter des Urban Heat Islands (UHI) – Strategieplans Wien, Leiter des Teams Stadtklimatologie/Förderungen für Bauwerksbegrünungen und der Arbeitsgruppe "Grün- und Freiflächen" des Beschaffungsprogrammes "ÖkoKauf Wien".
Jürgen Preiss ist zuständig für die Umsetzung strategischer Umweltziele im Rahmen verschiedener Planungsinstrumente (Smart City Rahmenstrategie, Stadtentwicklungsplan, Fachkonzepte, Leitbilder der Stadtentwicklung, Klimaschutzprogramm, allgemeine Projektpläne). Zudem organisiert und begleitet er Lehr,- und Informationsveranstaltungen an Universitäten, Schulen und sonstige öffentliche Veranstaltungen.