U-Bahn-Ausbau Wien
U2 x U5 = 12
Die Herren staunten nicht schlecht, als sie sahen, was sie da ausgegraben hatten: Vor ihnen lag ein Brunnen aus dem 17. Jahrhundert – solide gemauert, nach dem Stand der Technik der damaligen Zeit und in erstaunlich gutem Zustand. "Das war durchaus eine Überraschung für uns. Der Brunnen war auf keiner Karte verzeichnet", erinnert sich Helmut Schweiger. "Mit Funden wie diesen muss man beim U-Bahn-Bau rechnen."
Schweiger ist als Manager der Wiener Linien federführend am laufenden Ausbau der U-Bahn-Linien U2 und U5 beteiligt. Beim Projekt „U-Bahn Ausbau U2 x U5“ handelt es sich um das wichtigste Infrastrukturprojekt, das derzeit in Wien umgesetzt wird, und „sicher um das spannendste Tiefbauvorhaben Österreichs“, wie ein beteiligter Tiefbauexperte meint. Überraschende Funde wie den historischen Brunnen, der im Bereich der U-Bahn-Station Neubaugasse unter der Erde verborgen lag, sind keine Seltenheit. An anderer Stelle stießen die Arbeiter sogar auf Teile einer alten Straße aus der Römerzeit.
Aber derartige Funde sind bei Weitem nicht die einzigen Herausforderungen, mit denen die Tiefbauer konfrontiert sind. Allein der Umfang des Projekts flößt Respekt ein: Das U-Bahn-Netz der Bundeshauptstadt wird massiv ausgebaut. Mit der U5 entsteht eine völlig neue U-Bahn-Linie, und die U2 wird in Richtung Süden bis zum Wienerberg erweitert. Dabei werden zwölf neue U-Bahn-Stationen errichtet. Der Investitionsvolumen liegt bei rund sechs Milliarden Euro.
Bis zu 75.000 Tonnen CO2-Ersparnis jährlich
Die Investitionen werden die Kapazität des öffentlichen Verkehrs in Wien deutlich erhöhen. Die Wiener Linien rechnen vor, dass sich mit dem Ausbau 300 Millionen zusätzliche Fahrgäste jährlich transportieren lassen. Die jährliche Kapazität der Öffis steige damit auf 1,3 Milliarden Fahrgäste pro Jahr. Das CO₂-Einsparungspotenzial vom Linienkreuz U2 x U5 liegt bei bis zu 75.000 Tonnen jährlich.
Die U5, die die Farbe Türkis erhält, wird die erste selbstfahrende U-Bahn-Linie Wiens werden. Sie übernimmt den Südast der violetten U2 vom Karlsplatz bis zum Rathaus. Neu gebaut wird dann die Strecke vom Rathaus ausgehend in den Nordwesten in Richtung AKH bis hin zur Endstation Hernals. Die U2 wird vom Rathaus Richtung Süden bis zum Wienerberg verlängert, der damit an das U-Bahn-Netz angeschlossen wird. Bis das gesamte Projekt abgeschlossen ist, wird es noch einige Jahre dauern: Die U5 soll Anfang 2034 fertiggestellt werden, die neue U2 Anfang 2035.
Die Verantwortung für das Projekt teilen sich bei den Wiener Linien die beiden Gesamtprogrammleitern Helmut Schweiger, er ist für die U2 zuständig, und Johann Loreth, er verantwortet die U5. Die beiden Manager sind mit einem ambitionierten Fahrplan konfrontiert. Denn die ersten Teilstrecken sollen den Fahrgästen bereits in wenigen Jahren zur Verfügung stehen.
Das Projekt U2 x U5 gliedert sich in zwei Baustufen. Stufe 2 sieht die Finalisierung des Gesamtvorhabens zwar erst in 2032–2035 vor. Stufe 1 soll aber deutlich früher fertig werden. In dieser ersten Stufe wird die bisherige U2-Strecke zwischen Karlsplatz und Rathaus für den autonomen Fahrvertrieb auf der U5 adaptiert. Zudem wird der erste Abschnitt der geplanten Erweiterung in den Nordwesten mit der Verbindung zwischen Rathaus und der neuen Station Frankhplatz gebaut. Ab 2026 wird die U5 dann zwischen Karlsplatz und Frankhplatz ihre autonomen Runden drehen. Der erste Teilabschnitt der geplanten U2-Erweiterung wird 2028 in Betrieb gehen. Er führt vom Rathaus Richtung Süden über die Stationen Neubaugasse, Pilgramgasse und Reinprechtsdorfer Straße bis zur neuen Station Matzleinsdorfer Platz. "Kollege Loreth ist bei der U5 etwas früher mit dem ersten Abschnitt fertig als wir bei der U2", meint U2-Programmleiter Schweiger lächelnd. "Dort haben die Arbeiten aber auch früher begonnen." Zur Erklärung: Die Baustufe 2 der U5 bis Hernals wurde im März 2021 zur Detailplanung an die Wiener Linien übergeben, die Erweiterung der U2 im Juli 2023.
Mit der Umsetzung von Baustufe 1 haben die Wiener Linien zwei Arbeitsgemeinschaften beauftragt: Eine Arge aus den beiden größten österreichischen Bauunternehmen, Strabag und Porr, erhielt den Zuschlag für die U2 – also den Bau der Strecke zwischen Matzleinsdorfer Platz und dem Augustinplatz vor der Station Rathaus. Der Auftragswert für die ARGE liegt bei knapp einer halben Milliarde Euro. Eine Arge der Unternehmen Swietelsky, Habau und Hochtief ist mit der Umsetzung der Station Rathaus sowie der U5 betraut – also den Bau der Strecke vom Rathaus zum Frankhplatz. Das Auftragsvolumen beträgt rund 240 Millionen Euro.
Da die neuen Stationen teilweise unterhalb von schon bestehenden Stationen liegen, sind die Stationsschächte bis zu 37 Meter tief. Das sind Tiefen, die beim U-Bahn-Bau in Wien in der Vergangenheit nicht vorgekommen sind. Dazu U5-Programmleiter Loreth: "Der Bau dieser Schächte ist technisch so, als wenn man ein massives Hochhaus abteuft." Beim Bau dieser Schächte wird die Deckelbauweise verwendet. Das bedeutet, dass die Schächte erst mittels Bohrpfählen und innenliegenden Stahlaussteifungen gesichert werden und dann Stockwerk für Stockwerk nach unten gearbeitet wird. Die Stationsschächte selbst sind außerdem zentraler Dreh- und Angelpunkt für den An- und Abtransport des Materials.
Die „Stationsröhren“ – sie beinhalten die Tunnelanlagen in den Stationsbereichen inklusive der Bahnsteige – erstellt man mit der „Neuen Österreichischen Tunnelbauweise“ (NÖT). Dabei wird mit Baggern Meter für Meter nach vorne gegraben und der Tunnel mit Spritzbeton gesichert. Vereisungsbohrungen, die teilweise im Vorfeld der Arbeiten durchgeführt wurden, sorgen für Stabilität im Erdreich.
Für den Bau der Streckenröhren – also den Verbindungen zwischen den einzelnen Stationen – kommt auf der U2-Strecke zwischen Rathaus und Matzleinsdorfer Platz eine Tunnelbohrmaschine (TBM) zum Einsatz. Die Maschine wird 2024 am Matzleinsdorfer Platz loslegen und sich ihren Weg Richtung Rathaus bohren. Dort angekommen, wird sie demontiert und zum Matzleinsdorfer Platz zurückbefördert, um die zweite Röhre zu bohren – die U-Bahn fährt bekanntlich in beide Richtungen und benötigt daher zwei Röhren. Im Unterschied zur NÖT-Methode wird der Tunnel von der TBM nicht in Segmenten aufgefahren, sondern der komplette Tunnelquerschnitt mit einem großen Schneidrad kreisrund abgebaut.
Da die U-Bahn sich naturgemäß im innerstädtischen Bereich durch den Untergrund bahnt, sind im Bereich der Stationsschächte umfangreiche Maßnahmen notwendig, um die Setzungen von darüber liegenden Gebäuden zu verhindern. Bei diesen "Senkungskompensationsmaßnahmen" stellt man horizontale Bohrungen mit perforierten Rohren her. Durch die Öffnungen führen die Tiefbauer eine Kontakt- oder Hebungsinjektion durch. Damit erstellen sie ein Zwischenfundament, das verhindern soll, dass die Setzung bis an die Oberfläche durchschlägt.
Kopfzerbrechen bereitet den Projektmitgliedern auch das Thema Grundwasser. Beim Bohren und Graben von Röhren und Schächten stoßen die Arbeiter immer wieder auf Grundwasser bzw. wasserführende Schichten. Dann sind sogenannte Grundwasser-Entspannungsmaßnahmen notwendig. Mit ihnen senkt man den Wasserpegel oder entwässert die wasserführenden Schichten während der Bauphase vorübergehend. Da die Bauten wasserdicht ausgeführt werden, kann er nachher wieder auf sein natürliches Niveau gebracht werden. Im Zuge einer derartigen Maßnahme konnten die Baufirmen auch vom gemauerten Brunnen aus dem 17. Jahrhundert Gebrauch machen, auf den sie bei ihren Grabungen überraschend gestoßen waren. "Wir haben den Brunnen verwendet, um den Wasserpegel abzusenken", schildert U2-Programmleiter Schweiger. "Nach den Arbeiten haben wir ihn wieder verschlossen. Jetzt liegt er wieder ungestört im Erdreich."