Spezialtiefbau
Drei Deckel für den Campus
Hörsaal 2 macht noch nicht viel her. Es ist zugig, nass und laut. Das liegt aber vor allem daran, dass Hörsaal 2 noch nicht ganz fertig ist: Da, wo einmal mehrere 100 Studentinnen und Studenten aufmerksam den Vorlesungen ihrer Professoren lauschen sollen, ist derzeit nur das Brummen von Dieselmotoren und das Scheppern von Baggerschaufeln zu hören. Der Hörsaal ist bislang nicht viel mehr als eine große Baugrube – so wie der Großteil des riesigen Gebäudekomplexes, an dem hier gearbeitet wird.
In der Mariannengasse im 9. Wiener Gemeindebezirk, entsteht derzeit der neue Campus der Medizinischen Universität Wien. Bis zum Wintersemester 2026/27 sollen hier auf einer Nutzfläche von 35.000 Quadratmetern die bisher verstreuten vorklinischen Einrichtungen der MedUni gebündelt und topmoderne Räumlichkeiten für den Lehrbetrieb geschaffen werden. 750 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden in Zukunft am Campus arbeiten und 2.000 Studentinnen und Studenten ihr Wissen erweitern.
Für das Großprojekt sind insgesamt Bruttoinvestkosten von 394 Millionen Euro veranschlagt. Auftraggeber sind die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) für das Bauprojekt und die MedUni Wien für das Einrichtungsprojekt. Beteiligt sind bereits mehr als 30 Unternehmen aus der Bauwirtschaft sowie deren Subunternehmen – darunter befinden sich Branchengrößen wie Porr, Strabag oder Gerstl Bau. Die Generalplanung hat eine ARGE aus Delugan Meissl Associated Architects und Architektur Consult übernommen. Für die örtliche Bauaufsicht ist Vasko+Partner zuständig.
Aus Sicht von Markus Müller, dem Rektor der MedUni Wien ist die Bündelung von Wissenschaft und Ausbildung in unmittelbarer Nähe zum AKH ein großer Wurf: „Unser Ziel ist es, unsere Patient*innen möglichst rasch von den Ergebnissen der Grundlagenforschung profitieren zu lassen. Die nun erreichte, historisch erstmalige räumliche Anbindung der Vorklinik an die Universitätskliniken am AKH Wien ist hierfür ein wichtiger Schritt.“
Ein außergewöhnliches Projekt für den Tiefbau
Der neue „MedUni Campus Mariannengasse“ wird in einen Allgemein-, Lehr- und Forschungsbereich gegliedert. In der Sockelzone des Hauptgebäudes sind drei große Hörsäle angeordnet. Weitere Seminar- und Übungsräume befinden sich im ersten und zweiten Obergeschoß. Dazu kommen Aufenthaltsbereiche und Lernzonen für die Studierenden. Die Flächen für die Forschung sind im dritten bis siebenten Stock untergebracht. Als Bindeglied zwischen Alt und Neu befindet sich im Erdgeschoß des denkmalgeschützten Bestandsgebäudes die Mensa. Quer durch den Campus wird eine öffentliche Verbindung von der Spitalgasse (Altes AKH) in Richtung Lazarettgasse (AKH) geschaffen.
Doch bevor Wissenschaftler und Studierende am neuen Campus ihr Tagwerk verrichten können, ist auf der Großbaustelle noch einiges zu tun. Die wesentlichen Tiefbauarbeiten im Neubaubereich sollen laut Oliver Gusella, Geschäftsführer bei Vasko+Partner, „Anfang Dezember 2023 abgeschlossen werden“, dann beginnt auch die Herstellung der Fundamentplatte im Neubau mit vier Untergeschossen. Gerade für die Tiefbauer hatte das Projekt in den vergangenen eineinhalb Jahren eine ganze Reihe von Herausforderungen parat. „Aus Sicht des Tiefbaus ist der Campus sicher ein außergewöhnliches Projekt“, so Gusella. „Hier kommen viele Faktoren zusammen: von der innerstädtischen Lage und der reinen Größe des Vorhabens über die Bestandsbauten am Gelände und in unmittelbarer Nachbarschaft bis hin zum Denkmalschutz und Altlasten auf der Liegenschaft.“
Die innerstädtische Lage mitten im 9. Wiener Gemeindebezirk stellt während der Tiefbauphase vor allem die Logistiker vor anspruchsvolle Aufgaben: Für den Aushub der bis zu 18 Meter tiefen Baugrube müssen insgesamt 180.000 Tonnen Erde abtransportiert werden. Dazu sind bis zu 100 LKW-Fahrten täglich notwendig. Da sich in der Nähe der Mariannengasse auch Großbaustellen der Wiener Linien für den U-Bahn-Ausbau befinden (siehe Seite 22 dieser Ausgabe), war und ist für ein entsprechendes Verkehrsaufkommen gesorgt – und ein professionelles Verkehrsmanagement dringend erforderlich.
Aufgrund der vorhandenen Rahmenbedingungen im dicht verbauten innerstädtischen Bereich mit Bestandsgebäuden auf dem Areal und angrenzenden Wohngebäuden auf den Nachbargrundstücken entschied man sich beim Tiefbau für die Deckelbauweise. Dabei dienen die Kellerdecken sowohl im Bauzustand als auch im Endzustand als seitliche Aussteifung für die Baugrubenumschließung. Diese aussteifenden Kellerdecken nennen die Fachleute Deckel. Die Deckelbauweise hat den Vorteil, dass sie im Vergleich zu konventionellen Bauweisen, wie offene Baugruben mit Stahlaussteifungen, verformungsärmer ist. Zudem kann der erste Deckel als Baustellenlogistikfläche und für den Baustellenverkehr genützt werden.
Der Campus in der Mariannengasse soll vier Untergeschosse erhalten. Daher werden dort insgesamt drei Deckel benötigt. Zur seitlichen Sicherung der gewaltigen Baugrube, die eine Fläche von rund 7.000 Quadratmeter hat, wurden 318 Bohrpfähle (Durchmesser 88 Zentimeter und Längen von 22 bis 34 Meter) hergestellt und rund 3.000 Quadratmeter bestehende Schlitzwände in das Baugrubensicherungskonzept integriert. Die drei Deckel lagern auf insgesamt 128 Primärpfählen. Sie müssen in der Rohbauphase wieder entfernt werden. Auf dem Areal, das vormals von den Wiener Netzen genutzt worden war, befanden sich bei Beginn der Vorarbeiten noch Bestandsgebäude aus den 20er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Einige der Gebäude werden erhalten und eines steht sogar unter Denkmalschutz. Tiefbauliche Sicherungsmaßnahmen, die seinerzeit beim Bau dieser Gebäude errichten waren, mussten entfernt beziehungsweise adaptiert werden, damit sie den statischen Anforderungen des neuen Campus gerecht werden.
Damit die verbleibenden Bestandsgebäude auf dem Areal sowie direkt an die Baustelle angrenzende Wohngebäude nicht beschädigt werden, sind zusätzliche Sicherungsmaßnahmen notwendig. Großen Wert legt man laut Vasko+Partner-Geschäftsführer Gusella auf „ein umfangreiches Monitoring“, mit dem überwacht wird, ob die Verformungen und die Erschütterungen der anliegenden Gebäude innerhalb der prognostizierten Werte oder Grenzwerte bleiben.